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Das Gutachten von Jennifer Daniel - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Das Gutachten 

von Jennifer Daniel


Im Juli 1977 ist Karl Martin als Assistent am rechtsmedizinischen Institut in Bonn beschäftigt. Er ist für die fotografische Ablichtung der zu sezierenden Toten und Teilablichtungen während des Sezierens verantwortlich, um die Dokumentation für die Kriminalpolizei zu erstellen. Nachkriegszeit – Martin ist ein aufrechter Bürger, konservativ bis unter die Nasenspitze. Nachts quälen ihn im Schlaf seine Kriegserlebnisse, die er als ganz junger Soldat an der an der Westfront erlebte. Seine Traumata erstickt er mit dem Flachmann aus der Sakkotasche. Biedere Töne sind für die Reihenhaussiedlung gesetzt, möbliert im bürgerlichen Stil der Zeit. Auf der anderen Seite gibt es eine alleinerziehende Studentin, Miriam Becker, die der linken Szene angehört – ihre Wohnung alternativ gestaltet. Die RAF-Sympathisanten planen eine spektakuläre Plakataktion. Sie wollen ein riesiges Plakat pressewirksam beim Kanzlersommerfest anbringen und Miriam soll den «Fluchtwagen» fahren. Hier wird die Farbgestaltung der Seiten bunter, heller, die Studentenszene.  



An einem Sommertag wird für Karl Martin die Welt zusammenbrechen ... Sein Chef (ein arroganter Professor) gastiert auf dem Kanzlerfest inmitten der Prominenz. Es fließt viel Alkohol. Martin sitzt derweil mit Freunden in einer Kneipe beim Doppelkopfspiel. Es fließt viel Alkohol. Beim Anbringen ihres Plakats werden die jungen Studenten erwischt und verhaftet. Miriam wartet im Auto lange vergeblich sie. Auf dem Rücksitz liegt ihr Sohn, für den sie keinen Babysitter bekommen konnte. Als ihre Freunde nicht erscheinen, fährt sie in dieser Nacht über die Landstraße zurück nach Hause. Martin und sein Freund sind ebenfalls auf dem Nachhauseweg, als ein Mercedes sie überholt und sie von der Straße abdrängt. Kurz hinter Bonn ereignet sich ein Autounfall und Miriam Becker verstirbt sofort in ihrem Wagen. Kurz darauf kommt Martin zur Unfallstelle, der Unfallverursacher flüchtet – ein Mercedes. Karl Martin stellt den Tod der Frau fest. Er und sein Freund haben viel Alkohol getrunken, da wäre es nicht ratsam, die Polizei zu rufen – der Frau ist sowieso nicht mehr zu helfen ...



Am nächten Tag liegt diese Frau auf dem Seziertisch – Karl muss sie ablichten, verliert bei ihrem Anblick das Bewusstsein. Und da ist noch ein Kind, aus demselben Wagen. Das hatte er in der Nacht übersehen. Von Schuldgefühlen gequält, beginnt Karl an zu forschen, wer der Unfallverursacher gewesen sein mag, sichert Beweise ... Er stößt auf ein Dickicht von Kumpanei, Seilschaften, Amtsmissbrauch, Machtmissbrauch. Mit dieser Graphic Novel bringt Jennifer Daniel zeichnerisch aufs Papier, wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft funktionierte. Erzählerisch ist ein Krimi entstanden, ein Drama. Ein Biedermann, kleinkariert, getrieben von den Dämonen seiner Kriegserinnerungen, die fein in grauen Tönen gezeichnet sind; ein korrekter, verantwortungsvoller Mann aus dem Amt, der alles richtig machen will, der mit seinem Sohn hadert, der den Wehrdienst verweigern will. Alkohol bestimmt das Leben auf allen Ebenen. Die spießige Atmosphäre der Bonner Gesellschaft und ihre Bigotterie ist prima herausgearbeitet. Die sich auflehnende Jugend der siebziger Jahre, die die Restposten des Dritten Reichs in der Bundesrepublik beklagten. Hier hat mir ein wenig Hintergrundwissen zur RAF gefehlt, ein Begriff, mit dem möglicherweise Jugendliche heute nichts mehr anfangen können – Infos am Ende hätten gereicht. 



Die Grafiken von Jennifer Daniel haben mich begeistert! Der Stil ist untypisch für den Comic, sehr illustrativ-gefällig, voll kräftiger Farben im Aquarell- und Gouachestil. Bonn ist wiederzuerkennen, der Zeitstil kommt gut herüber: die Wohnungseinrichtung, die deutsche Kneipe, das beliebte Rasierwasser «Irish Moos», Manschettenknöpfe, die Bekleidung der älteren versus der jüngeren Generation; Flachmann, bzw. Alkohl zu jeder Gelegenheit in Mengen. Der Mief der 70-er riecht fast aus den Seiten. Betrunkene fahren mit ihren Autos, schlafen dabei ein – auch das ist zeichnerisch wunderbar kurvig-schnarchig dargestellt. Toxische Männer mit ihren Seilschaften kommen ins Bild – schuldig und schamlos: Sie ist tot, na und, war eine RAF-Sympatisantin, was hat sie mitten in der Nacht ihr Kind dabei. Auch wenn Karl nicht als Sympathieträger durchgehen mag, so ist er letztendlich der Aufrechte in dieser Geschichte. Die Graphic Novel war dieses Jahr für den Max-und-Moritz-Preis des Comicsalons Erlangen nominiert. Der Carlsen Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 16 Jahren; ich denke, das ist so weit ok. 15/16, Allage, so meine Einschätzung. Ein Krimi, deutsche Geschichte, ein Drama in Kombination – ein gehaltvoller Comic, spannend, meine Empfehlung! 


Jennifer Daniel, geboren 1986 in Bonn, ist eine der bemerkenswertesten deutschen Comiczeichnerinnen ihrer Generation. Für ihr Debüt «Earth Unplugged» wurde sie 2014 für den Max und Moritz-Preis nominiert. Mit «Das Gutachten» legt sie ihre erzählerisch wie zeichnerisch ausgereifteste Arbeit vor. Jennifer Daniel lebt in Düsseldorf und ist als Grafikdesignerin, Illustratorin und Dozentin tätig.



Jennifer Daniel 
Das Gutachten
Graphic Novel, Comic, Jugendbuch, Nachkriegsgesellschaft, RAF, Krimi, Kriminalliteratur, Drama, Kinder- und Jugendliteratur, Allage
Hardcover, 208 Seiten, 198 mm x 265 mm
Carlsen Verlag, 2022
Altersempfehlung: ab 15/16 Jahren, Allage



Graphic Novel, Comic, Grafisches  

Für die Fans von Comis / Graphic Novels und sonstigem Gezeichneten, wie Satire. Hier auf dieser Seite zusammengefasst.  Alle Altersgruppen. Graphic Novel, Comic,








Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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