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Vater unser von Angela Lehner - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Vater unser 

von Angela Lehner 


Es ist schon rosa, der Himmel wird gleich die Nacht herauskotzen. Ich schließe für einen Moment die Augen. Im Kopf rede ich mir gut zu, sage mir, dass Bernhard und ich uns wiederfinden werden; dass die Dinge in Ordnung kommen werden, so wie sie sein sollen.
Willkommen in der Psychiatrie! Eine psychotische Icherzählerin namens Eva berichtet von ihrer Familie. Dem Leser ist von vornherein klar, dass es sich hier um eine unzuverlässige Erzählerin handelt. Die Ereignisse sind heftig. Ist diese Geschichte aus der Provinz wahr, oder Teile, wenn ja welche? Eine junge Frau wird in die Psychiatrie in Wien eingeliefert, da sie eine Schulkasse erschossen hat – so behauptet sie gegenüber dem Leser. Hinter den Mauern befindet sich auch Bernhard, ihr Bruder, der bis auf die Knochen abgehungert ist, ständig zwangsernährt wird. Aber auch Eva leidet unter massiven Essstörungen.

Die Ärztin hat vorhin gesagt, wir sollen die Augen zumachen und die Gefühle im Körper lokalisieren. Wir sollen uns vorstellen, wo die Trauer sitzt oder die Freude. Ob die jeweiligen Gefühle zum Beispiel in der Brust wohnen oder eher im Bauch. Und welche Farben und Formen sie haben, diese Gefühle. Aber dann war das Glück bei allen gelb und saß in der Brust. Und die Wut war bei allen rot und saß im Bauch, und da musste ich kurz lachen. Es war ganz unfreiwillig, aber manche Menschen sind eben unabsichtlich so banal, dass ich mich provoziert fühle.

Vater unser - jede Menge Väter

Der Psychiater bezeichnet Evas Krankheit unter anderem als narzisstische Störung. Neben der Gruppen- und Einzeltherapie findet auch eine Familientherapie in der Psychiatrie statt: Eva, Bernhard und ihre Mutter. Das Zentrum von Evas Aggression ist der Vater, der nicht mehr dazugehört, weil er nun eine andere Familie hat – den man eigentlich umbringen muss, so Eva. Der Vater, Vaterland, Landesvater, der Hirte, der die Schäfchen hütet – ein Rundumschlag gegen das Patriarchat schält sich hier heraus. Vater unser, der zu Hause und der im Himmel, überall hagelt es Schläge. Eva ist wütend, so richtig wütend. Und sie will Bernhard retten. Sie wird es schaffen, ihn zu Essen zu bringen – wer sonst, sagt sie. Irgendetwas in dieser Familie ist schiefgegangen. Der Vater, ein schreckliches Monster – was genau er mit den Kindern anstellte, lässt sich nur erahnen, Missbrauch … oder war er ein Zauderer, ein Schwächling, der sich unter der Bettdecke versteckte, weil andere Leute in dieser Familie ausrasteten? Andeutungen nach allen Seiten. Schon in der Schule haben alle gesagt, die Eva lügt gern. Aber auch die Mutter ist Evas Feindbild: Die, die sich nur um sich kümmert, um ihre Frisur, um ihre Stöckelschuhe …

Heute bin ich in der Therapie so konstruktiv, dass ich es selbst kaum glauben kann. Ich erzähle, ich bringe mich ein, nicke mir selbst zu, wenn ich Korb etwas erkläre – eigentlich sollte man mich den anderen Irren als Musterpatientin vorführen: So hat man verrückt zu sein, genau so und nicht anders.

Was ist eigentlich verrückt?

Eva Gruber hat den Bauch voller Zorn, den Mund voller Schimpftiraden, Hass und Provokation und die Erniedrigung anderer bestimmt ihren Tagesablauf. Und der Psychiater, den Eva Korb nennt, kontert genauso schnippisch, provozierend, beleidigend. Eva besucht ihn auch nach Lust und Laune in seinem Büro.  Spätestens hier ist dem Leser klar, dass die beschriebenen Therapiegespräche nie stattgefunden haben – zu unprofessionell. Am Ende der Lektüre ist der Leser ein wenig schlauer – ein wenig. Aber es geht ja nicht darum, die ganze Wahrheit herauszufinden. Eva lässt die Sau raus. Sie ist ja verrückt! Wenn man verrückt ist, darf man das. Was verrückt ist, erklärt die Gesellschaft mit Grenzen: Gesetze, Verordnungen, soziale Regeln. Doch was geschieht hinter den Türen mit Kindern? Wer hat hier die Kontrolle? Wer kontrolliert die Kirchenväter? Landesväter ändern zack die Regeln, die Gesetze: Erlaubt ist, was von oben kommt und niemand kann sich wehren. Und wer sich nicht anpasst, fliegt raus aus der Gesellschaft.

Nachdem der Vater sich scheiden ließ, wussten wir nicht so recht weiter. Meine Mutter hatte vorher die meiste Zeit mit Beschwichtigen verbracht. Und sie musste sich ja auch dauernd vor den Vater werfen, wenn er uns mit seiner Bierflasche erschlagen wollte.' Ich seufze und erzähle weiter.

Ein saustarker Roman

Am Anfang hat man Mitleid mit Eva, fragt sich, was schief lief in dieser Familie. Irgendwann ist man soweit, man freut sich, dass dieses empathielose Negativ-Energiebündel eingesperrt ist, denn Eva ist mordsgefährlich. Einbrechen, ausbrechen, real, in Gedanken, Wahnsinn und Wahn, Gedankenflut – was ist wahr? Wir können uns nie sicher sein. Doch, über eins – ein saustarker Roman! Spannend von Anfang an, zieht das Buch den Leser hinein und reitet am Ende im apokalyptischen Ritt mit dem goldenen Reiter ins Schlussszenarium. Da lässt es Angela Lehner noch einmal krachen. Ein fulminantes Ende! Chapeau!

Noch heute tut es mir leid für ihn, dass der einzige Schrei, den er als Kind tat, vom Sturm verschluckt wurde.

Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, aufgewachsen in Osttirol, lebt in Berlin. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Maynooth und Erlangen. U.a. nahm sie 2016 an der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin und 2017 am Klagenfurter Häschenkurs teil. 2018 war sie Finalistin des Literaturpreises Floriana. »Vater unser« ist ihr erster Roman.

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