Direkt zum Hauptbereich

Der Henker von Paris von Claude Cueni - Rezension

  

Rezension 

von Sabine Ibing



Der Henker 


von Paris von Claude Cueni


Der Anfang: 
Gegen Mitternacht, man schrieb das Jahr 1737, fegte ein gewaltiger Sturm über die Normandie. Es regnete in Strömen. Krachend schlug der Blitz in einem bewaldeten Hügel ein und erhellte für einen Sekundenbruchteil den Reiter der durch die Nacht preschte.

Die Geschichte der Scharfrichterfamilie Sanson ist historisch durch Tagebücher gut dokumentiert und so konnte Claude Cueni sehr fein Tatsächliches mit Fiktivem verweben. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts regierten in Frankreich Adel und Klerus: Man wurde früher in eine Familie hineingeboren und somit in sein soziales und berufliches Schicksal. Bereits Charles-Jean-Baptiste Sanson versuchte, seinem Schicksal zu entkommen – hiermit beginnt der Roman. Doch wie es der Zufall will, gelangt er wieder in die Familienbestimmung  zurück, wird zum neuen Henker (bourreau) von Paris bestellt. Seine Familie übte seit 1688 das Scharfrichteramt in Paris und Versailles aus. Nun ist es für ihn aus mit der Naturheilkunde, er muss sich fügen. 

Doch seinem Sohn will er das Erbe ersparen, schickt den intelligenten Jungen auf gute Schulen. Scharfrichter, ein Angestellter der Justiz, sehr gut bezahlt, ein angesehener Mensch auf der einen Seite. Aber andererseits ein Aussätziger – denn niemand will mit den Mitgliedern der Familie etwas zu tun haben. Charles-Henri Sanson möchte Arzt werden und sein Vater steht hinter diesem Plan. Doch Charles-Jean-Baptiste erleidet zu früh einen Schlaganfall und ist gelähmt. 

... wird Jean-Louis Louchard verurteilt, an Beinen, Armen, Schenkeln und Rückgrat gebrochen und auf dem Schafott lebend gerädert zu werden. Zuvor Strecken auf der Plaza San Louis. Ein Raunen durchflutete die riesige Zuschauermenge.

Der älteste Sohn Charles-Henri Sanson muss nun sein Medizinstudium in Leiden, Belgien, abbrechen und die Stelle seines Vaters antreten. Gleich mit seinem ersten zu vollstreckenden Urteil erntet er großen Ruhm, wird nun «Monsieur de Paris» genannt, trägt fortan den blutroten Mantel, das Zeichen des Henkermeisters. Zum Handwerkszeug des Henkers gehören nicht nur Schwert oder Strick, viele Urteile setzen dem Tod eine üble öffentliche Tourtour voraus: Zange, Brandeisen, siedend heisses Wasser oder Öl ...

Jean-Louis Louchart gab der Wut ein Gesicht. Er hatte in Notwehr seinen trunksüchtigen und gewalttätigen Vater umgebracht. Vater und Sohn hatten einmal mehr über Benjamin Franklin gestritten, Erfinder des Blitzableiters und einer der Väter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dort stand geschrieben, dass alle Menschen frei und gleich geboten sind.

Der König Ludwigs XVI. herrscht über Frankreich – feiert rauschende Feste in Versailles, während das Volk hungert. Adlige müssen keine Steuern zahlen. Erste Unruhen brechen aus, die Armut der Bevölkerung führt zu erhöhter Kriminalität und letztendlich zum Aufstand. Aber wer sich öffentlich gegen den König auflehnt, der wird hingerichtet. Der Roman erfasst die Zeit der Französischen Revolution, die Stimmung der einfachen Menschen und die des Adels. 

Wenig später präsentierte Doktor Gouillotin der Nationalversammlung die Maschine. Er lobte die Vorzüge und betonte, dass man damit dem Postulat nach Gleichheit und Humanität sehr nahe komme. Die Maschine sei ein Akt der Humanität. Sie erfülle die Forderung der Revolution wonach jeder Mensch von Geburt an gleich sei.

Der Aufstand des Volkes, der Sturm auf die Bastille, die Revolution – radikale politische Umstürze und Verhältnisse – der König wird entmachtet, abgesetzt, die Revolutionäre bilden die Macht – aber diese Mächtigen von gestern landen wegen Verfehlungen selbst auf dem Schafott usw. Eine Hinrichtung folgt der Nächsten. Hier kommt der Arzt Joseph-Ignace Guillotin ins Spiel, dessen Erfindung, eine humanere Art der Urteilsvollstreckung möglich macht. Die sogenannte Guillotine wird von Charles-Henri Sanson unterstützt. Die neue Tötungsmethode macht allerdings auch eine Massenabfertigung möglich – es wird im Akkord enthauptet. Die Stadt ertrinkt im Blut, und Sanson bricht innerlich zusammen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit enden in Machtgier und Skrupellosigkeit, im Denunziantentum; Adlige werden einen Kopf kürzer gemacht, nur weil sie blaublütig sind. Claude Cueni beschreibt ein authentisches Bild des 18. Jahrhunderts, die Wirren der Französischen Revolution, die blutigen Gassen von Paris zu dieser Zeit. Er versetzt sich in den Beruf des Henkers, der seine Arbeit nur missmutig verrichtet, beschreibt, was es in ihm selbst auslöst, die grausame Justiz, und das zwiespältige Verhältnis zwischen der Bevölkerung und seinem «Monsieur de Paris», das eine Mischung aus Bewunderung und Abscheu beinhaltet. Ein feines Buch zum politisch-gesellschaftlichen Thema der Französischen Revolution: Der Henker selbst wird zum Zweifler der gerechten Sache – allerdings ist dieser Roman nichts für Nervenschwache.

Anwalt›, sagte Charles plötzlich, ‹du solltest Anwalt werden. Du könntest sowohl Täter als auch Opfer verteidigen. Mit der gleichen Akribie. Denn dich interessiert nur der Sieg. Nicht die Gerechtigkeit.

Charles-Henri Sanson führte 2918 Enthauptungen durch, darunter die Ludwigs XVI (nur noch Bürger Capet auf dem Schafott), er repräsentierte die Justiz der Monarchie ebenso wie die der Französischen Revolution. Die Königin Marie Antoinette wurde von seinem Sohn Henri enthauptet, der seinen Vater vertrat. Zu den Opfern der Guillotine von Charles-Henri Sanson zählten eine Reihe prominenter Revolutionäre wie Georges Danton, Camille Desmoulins, Maximilien de Robespierre. Ebenso Antoine de Saint-Just, französischer Revolutionär und öffentlicher Ankläger (während der Revolution änderte er seinen Namen zu Fouquier-Tinville, um seine adlige Herkunft zu verschleiern), dessen Verurteilung Charles-Henri eine Genugtuung war – auch das ist im Roman eindrucksvoll verflochten. 1862 wurden Henri-Clément Sansons Tagebücher erstmals publiziert, der auch seine Familiengeschichte dort aufarbeitete, die wahrscheinlich die Grundlage zu diesem historischen Roman gaben.

Eine Posse zum Schluss (nicht aus dem Roman, sondern von meinem Geschichtslehrer): Angeblich sei Charles-Henri Sanson nach seinem Rücktritt als Henker Napoléon Bonaparte in Paris begegnet. Der habe Sanson gefragt, ob er ruhig schlafen könne, nachdem er dreitausend Menschen hingerichtet habe. Sanson soll habe geantwortet haben: «Wenn die Kaiser, Könige und Diktatoren ruhig schlafen können, warum soll's nicht auch der Henker können?»


Claude Cueni, geboren 1956 in Basel. Nach dem frühzeitigen Abbruch der Schule reiste er durch Europa, schlug sich mit zwei Dutzend Gelegenheitsjobs durch und schrieb Geschichten. Mittlerweile hat er über fünfzig Drehbücher für Film und Fernsehen sowie Theaterstücke, Hörspiele und Romane verfasst, u.a. den Bestseller Das Grosse Spiel über den Papiergelderfinder John Law, der bisher in zwölf Sprachen übersetzt wurde. Claude Cueni lebt bei Basel.




Claude Cueni 
Der Henker von Paris
Historischer Roman, Französische Revolution
Taschenbuch, 400 Seiten 
Lenos Verlag, 2013




Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

Rezension - Der Schneeflockensammler von Robert Schneider und Linda Wolfsgruber

  Eine wunderschön poetisch geschriebene Geschichte über einen verträumten Jungen, der viel Zeit mit Nachdenken verbringt und fasziniert ist von den kleinen Dingen der Welt im Lauf der Jahreszeiten: den Eigenheiten der Blätter, der Steine und der Schneekristalle, die ihn besonders begeistern. Immer wieder entrückt Wilson Bently bei der Arbeit, beschäftigt sich mit den Details der Natur. Schau dir das Ulmenblatt an, es hat die gleiche Form wie der Baum, in der Mitte der Stamm, die Verästelung der Blattadern, wie ein kleiner Baum. Schneekristalle begeistern ihn. Wilson Bently ist eine reale Person – es ist eine Biografie. Linda Wolfsgruber taucht die Erzählung in winterliches Blau-Weiß ein, Grafiken, die sich in die Tonalität von Robert Schneider einpassen. Empfehlung! Bilderbuch ab 5 Jahren. Weiter zur Rezension:    Der Schneeflockensammler von Robert Schneider und Linda Wolfsgruber

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

  Saisonal kochen das ganze Jahr. 100 Rezepte, über 300 Varianten Gemüse satt - das ganze Jahr, möglichst regional! Mit über 100 alltagstauglichen Gemüserezepten und unzähligen Tausch-Optionen begeistert dieses Kochbuch nicht nur Gemüsekisten-Fans. Die Kapitel sind nach Monaten aufgeteilt, die Saisongemüse aufgezählt. Ob knusprige Rösti aus Kartoffeln und schwarzem Rettich, gebratener Rhabarber mit Ziegenkäse oder Wirsing-Pasta mit Nussbröseln. Stefanie Hiekmann zeigt, wie man das Beste aus seiner Gemüsekiste herausholt, alles verwertet und saisonale Schätze haltbar macht. Einfach, nachhaltig, gesund und lecker! Die Rezepte sind einfach, also für Anfänger optimal, für den versierten Koch voller Anregungen. Absolute Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb