Direkt zum Hauptbereich

Mutterland von Paul Therooux - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing




Mutterland 

von Paul Therooux


Wir waren Untertanen im Mutterland, in Mutters Diktatur, und jeder von uns ein mürrischer Dissident. Mutter hatte uns alle Feinheiten des Betrugs beigebracht. Lektion eins war, Bindung ist immer ein Fehler. Lektion zwei, Gefühl ist Schwäche. Lektion drei, Vertrauen ist dumm und fatal, und der Schlüssel zur Macht ist das Wissen um die Geheimnisse der anderen Geschwister.

Es fällt mir schwer, diesen Roman einzuordnen. Sage ich, es ist ein Familienroman, so stimmt es einerseits, aber auf der andern Seite erzählt ein Familienroman eine Geschichte, ob nun linear oder versetzt. Sage ich, dies ist ein Psychodrama, dann ist sicher etwas dran, aber auch das trifft es nicht. Und hier liegt mein Problem mit diesem Buch. Ich habe zwar bis zum Ende durchgehalten – durchgehalten, so kann man es bezeichnen –  aber ab der Mitte habe ich geblättert. Der Icherzähler, Jay, ein Reisejournalist, berichtet hier in Sequenzen über die Beziehung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Auch der Autor ist Reisejournalist und er hat in seinen Büchern autobiografisches schon immer gern mit fiktivem vermischt und auch dies scheint, wie viel davon auch immer, autobiografisch angelegt sein, die Eckdaten lassen darauf schließen.

Die Geschichte beginnt mit einer Familienzusammenkunft am Sterbebett des Vaters. Jay und seine sechs Geschwister werden von der Mutter davon informiert, dass sie nun gemeinsam zu entscheiden hätten, die Atemgeräte vom Vater auszustellen oder nicht. Er würde nur noch leiden, sagt sie, darum habe sie den Ärzten bereits mitgeteilt, wie sich die Familie entschieden hat und meint, nun könne man erst mal essen gehen. Es gibt keine Widerworte. Jay verpieselt sich im Restaurant und kehrt zum Krankenhaus zurück, sitzt als einziger am Bett des dahinscheidenden Vaters. Soweit beginnt die Geschichte spannend.

Zwei Ehefrauen – erledigt. Zwei Kinder – erledigt. Haus und Grundbesitz erworben und verloren, dito jedes Möbelstück.

Jay, der Journalist, ist nach dem Tod des Vaters wieder zurück in die verhasste Heimatstadt Cape Code, Massachusetts, gezogen, zurück zur verhassten Familie. Er selbst, Anfang 60, ist zweimal geschieden. Es ergibt sich im weiteren Verlauf keine runde Geschichte. Mir scheint es, als wenn jemand Tagebuchnotizen zu einem Text zusammengefasst hat. Der Icherzähler erzählt episodenhaft von Besuchen bei Geschwistern bei der Mutter, von Telefongesprächen. Mutter liegt im Ohr, er möge sich eine neue Freundin zulegen. Er hat bereits eine, aber die will das geheim halten, weil die Freundin glaubt, ihre Tochter würde das derzeit noch nicht verkraften. Jays Mutter kitzelt dem Sohn dann doch die Beziehung heraus, unter dem Mantel der Verschwiegenheit, sie schwört heilig, niemandem etwas zu sagen. Natürlich weiß die ganze Stadt am nächsten Tag Bescheid. Die Freundin erfährt so, dass sie längst verlobt sei und demnächst heiraten werde. Sie beendet wütend die Beziehung mit Jay. Der Journalist ist erbost, brüllt Mutter am Telefon an, was einige Geschwister verärgert, weil diese das ganze theatralisch aufbauscht. Mutter hat denen erzählt … sagen sie. Jay, schockiert, ruft die Mutter an, die sagt, so was habe sie nie gesagt usw.

... ihr bevorzugtes Kommunikationsmittel war das Telefon. Es kam ihrem Bedürfnis nach Geheimniskrämerei und Manipulation entgegen. Sie wurde gern vom Klingeln des Telefons überrascht, liebte die Unberechenbarkeit des Gesprächs, die Macht aufzulegen.

Eine typische Familiensituation, bei der es um Eifersucht und Stichelei geht, und diese Mutter in der Mitte hetzt jeden gegen jeden. Und alle machen mit. Es gibt eine weitere Schwester, Angela, die immer anwesend ist, ihr eigenes Gedeck bei Tisch hat – sie starb ein paar Stunden nach der Geburt. Dieses Kind ist das reinste, schlauste, eine mit der Mutter jeden Tag redet, eine die immer macht, was Mutter will und Angela ist mit ihr immer einer Meinung.

Es gab keinerlei Distanz zwischen der Welt der Kindheit und der Verwirrung, die ich jetzt empfand, runtergeputzt von Fred, abgewiesen von Floyd, getadelt von Franny, belächelt von Hubby und Rose und verraten von Mutter, die mich beschuldigte, ihr Kopfschmerzen zu bereiten.

Seine Geschwister bezeichnet Jay als »schubsende, drängelnde, alternde, dickbäuchige Kinder mit Glatzköpfen und ersten Gebrechen«. Kinder bleiben für eine Mutter Kinder, egal wie alt sie sind, und sie benehmen sich in Mutters Beisein auch so. Floyd, der bis weit in die Grundschule ein Bettnässer war, immer ein schwieriger Mensch, ist ein bekannter Lyriker. Endlich findet Jay wieder einen Draht zu ihm, auch wenn er ihn nervt. Floyd leiht sich ständig irgendetwas aus, bringt nur wenig zurück. Doch nach dem Drama mit der sogenannten Verlobung, nachdem Jay die arme alte Mutter angeschrien hat, ist es aus zwischen den Brüdern. Eigentlich geht es darum, dass Jay und Floyd sich alles sagen wollten, Dinge die nicht in die Familie getratscht werden. Aber Jay hat seine Freundin verheimlicht, seine Liebe – es aber Mutter gebeichtet. Jay wird auch nicht mehr zu Familienfeiern eingeladen, da Floyd ihm nicht begegnen will, die anderen zum verhassten Floyd halten. Der schreibt Jay boshafte Zettel. Es kommt sogar so weit, dass Floyd den neuen Roman von Jay im Feuilleton einer großen Zeitung elendig zerreißt, dabei extrem persönlich wird. Nun floppt das Buch, das vorher riesige Vorbestellungen hatte. Dieser Verriss schien mir merkwürdig, da er so dermaßen lang und persönlich abrechnend ist, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine seriöse große Tageszeitschrift diese Schmähschrift abdrucken würde – es geht gar nicht um den Roman.

Hier wird gehackt und gehauen, was das Zeug hält. Mutter steuert die Intrigen. Ab der Mitte wurde mir der Roman zu langweilig, ich fühlte mich in der Wiederholungsschleife. Der eine sagt dies, der andere das, in der Mitte teilt Mutter aus und niemand hat je irgendwas davon gesagt oder gemacht, alles Lüge. Immer wieder das Gleiche von vorn in minimaler Abweichung. Der Leser bekommt allerdings nur das Gejammer von Jay aufs Papier gelegt, Jays Sicht über 653 Seiten. Genau das ist für mich die Problematik – die Glaubwürdigkeit. Der Roman hätte Fahrt bekommen, wäre wirklich humorvoll geworden, wenn wir die Sicht der gesamten Familie bekommen hätten, die Gedanken der Einzelnen. Der Roman ist eine Anreihung von Dialogen von gegenseitigen Beschuldigungen, Unterstellungen. Jay ist der Unverstandene, der, über den ständig alle herfallen, das Kind, das ausgeschlossen wird, aber so gern dabei sein würde. Jay macht nichts falsch, nur die anderen. Jay unterstellt allen Beteiligten Charakterschwäche, Eifersucht, Tendenzen des Lästerns. Aber wie sieht es mit dir aus, Jay? Ich hatte bis zum Ende die Hoffnung, da käme noch etwas … 653 Seiten Gejammer – das ist zu viel. Das ist statisch. Sicher, es gibt wundervolle Stellen und manchmal kann man lachen. Der Roman wird als humorvoll beschrieben. Mich zog er eher runter in der eindimensionalen Warteschleife.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Die Lotsin von Mathijs Deen

  Was geschah auf dem Forschungsschiff? Kaum hat vor Helgoland eine Übung des niederländischen, deutschen und dänischen Grenzschutzes begonnen, geht bei der Küstenwache ein Notruf ein. Eine Klimaforscherin , die mit einem US-Forschungsschiff auf dem Weg von Grönland nach Kiel war, wird vermisst. Xander Rimbach , Ermittler der Bundespolizei See , geht an Bord. Zunächst weist alles auf einen Suizid hin. Rimbach drückt aber das Bauchgefühl, dass hier ordentlich gemauert wird. Irgendetwas stimmt nicht auf diesem Schiff. Ein literarischer Krimi, Kriminalliteratur vom Feinsten. Weiter zur Rezension:    Die Lotsin von Mathijs Deen