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Helvetia 1949 von Philipp Gurt - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Helvetia 1949 


von Philipp Gurt


Vor einer Viertelstunde war pünktlich wie jeden Mittag um zwölf Uhr, die Feuerwerksrakete hinter dem fast einen Kilometer langen Schweibenwall ins Himmelblau hochgestiegen, um mit einem sehr lauten Knall die Mittagspause zu verkünden, so dass die Felswände des mächtigen Calanda diesen widerhallten.


Der Kriminalroman spielt in der Nachkriegszeit im Jahr 1949 in Chur. Das Eidgenössische Schützenfest steht bevor, als die Landjäger Caminada und Marugg zu einer halbseidenen Gastwirtschaft gerufen werden, die etwas abseits vom Ort liegt. Eine der Serviererinnen hat sich nach Dienstschluss erhängt. Doch schnell ist klar: Hier ist ein Mord geschehen. Später vertreibt die Gastwirtin einen Schützen, der auf eine andere Angestellte schießt, die mit einem Schuss ins Bein entkommen kann. Sie wird später tot aufgefunden, durch mehrere Schüsse niedergestreckt. Und sie wird nicht die letzte Tote sein. Caminada und Marugg sind ratlos. Was geht hier vor?


Sprachlich hölzern und umständlich

Als er sich auf wenige Schritte genähert hatte, schlugen im Zwinger hinter dem Gasthaus die Hunde bedrohlich ihr tiefes Gebell an. Keine Minute später schwenkte die hölzerne Eingangstür auf, sodass gelblicher Schein auf die dreistufige Treppe darunter fiel.


Philipp Gurt transportiert den Leser gut ins Graubünden der Nachkriegszeit hinein. Ein Auto im Ort wird zum Ereignis, ein Telefon haben nur wenige Privilegierte – und auch die Moralvorstellung der Bevölkerung und die Gemütlichkeit des Handels kommen gut herüber. Insofern liefert der Autor ein repräsentatives Gesellschaftsporträt jener Zeit. Auch sprachlich ist die Tonalität der Zeit angepasst, hinzu kommen eine Menge Ausdrücke in Schwyzerdütsch. Wer bisher mit dem Schweizer Deutsch noch nie Kontakt hatte, wird sicher bei der ein oder anderen Vokabel Schwierigkeiten haben, sie zu versehen. Ein Hinweis mit der ein oder anderen Übersetzung im Anhang oder als Fußnote wäre nicht schlecht gewesen. Es gibt Figuren, die sprechen einen Satz in Dialekt, den nächsten dann in Hochdeutsch. Etwas verwunderlich, da die Einheimischen unter sich den Dialekt benutzen. Hier muss sich ein Autor entscheiden, was er will – schreibt er nun in Dialekt, oder lässt er es. Hin- und herzuhupfen ist sprachlich verwirrend, eben nicht authentisch. Weil wir gerade bei der Sprache sind, ich konnte mich mit dem hölzernen, umständlichen Stil des Autors bis zum Ende nicht anfreunden. Dazu kommt Adjektivlastigkeit (zwei Drittel könnte man streichen), ebenso verschachtelte Sätze die mich sprachlich nicht überzeugten, auch fehlt das «show – don’t tell», den Beschreibungen fehlen die Sinne und der ein oder andere Absatz klingt arg pathetisch.

Die Ausarbeitung der Figuren ist gelungen

Ganz im Gegenteil seine andere Gesichtshälfte – diese zeugte von der Schönheit eines aussergewöhnlich attraktiven Mannes: formschön vollendete Lippen, ausdrucksstarkes Auge, eine ausgeprägte männliche Kinnpartie, die Haut makellos, die Nasenhälfte gradlinig edel geschnitten, das volle schwarze Haar glänzte.


Trotz allem ein spannender Plot, der ein Gefühl für die Zeit gibt. Denn was mich überzeugte, war dargestellte Polizeiarbeit: Mühsam die Wege ohne KFZ, die Beweisaufnahme mit genauer Beschreibung der Örtlichkeit, Fingerabdrücke, Gerichtsmedizin, Zeugenbefragung, Protokolle per Hand, ein Telefon muss erst aufgesucht werden. Die Ausarbeitung der Figuren ist gelungen. Die Hauptfiguren, die Landjäger, sind authentisch mit Ecken und Kanten, auch Diakon Anselmo Veranzze ist ein Kind seiner Zeit mit einer tiefen Vergangenheit. Die Nebenfiguren sind glaubhaft mit all ihren Geheimnissen. Fazit: Der Sprachstil liegt mir nicht, inhaltlich ist an dem Krimi nichts auszusetzen. Ein Regiokrimi über Chur und Umgebung mit starkem Schwyzerdütsch-Einschlag, etwas für Regiofreunde.


Das Eszett [ɛsˈt͜sɛt]

Das Eszett [ɛsˈt͜sɛt] ... Dieser Buchstabe wurde leider in der Schweiz aus dem Alphabet entfernt. Die Schreibmaschine musste aus dem Französischen schon so viele Sonderzeichen aufnehmen, so tat es Not, einen herauszuschmeißen - Warum allerdings der Kölner Emons Verlag darauf verzichtet, ist mir ein Rätsel. Mich persönlich schüttelt es, Texte ohne Eszett [ɛsˈt͜sɛt] zu lesen. Denn dieser Buchstabe hat einen Sinn und manche Wörter klingen einfach falsch im Kontext ohne Eszett. Ich zum Beispiel finde, Alkohol in Maßen mag gesund sein, in Massen führt er zur Abhängigkeit. Und es ist ein Unterschied, ob ich auf die Buße oder die Busse warte. Und mal ehrlich, ss hat doch immer ein Geschmäckle. Man kann sich an ss gewöhnen - bei bestimmten Wörtern schrecke ich leider immer wieder hoch, insbesondere, wenn sie den Sinn eines Wortes verunstalten.


Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern in eine Bergbauernfamilie in Graubünden geboren. Er wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Früh begann er mit dem Schreiben. Etliche seiner Bücher wurden zu Schweiz-Bestsellern. 2017 erhielt er den Schweizer Autorenpreis. Er lebt in Chur im Kanton Graubünden.


Philipp Gurt 
Helvetia 1949
Kriminalroman, historischer Krimi, Regiokrimi, Schweizer Literatur 
Klappenbroschur
352 Seiten
Emons Verlag 2020




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