Direkt zum Hauptbereich

Grenzgänger von Mechtild Borrmann - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Grenzgänger 


von Mechtild Borrmann

Sprecher: Vera TeltzUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 59 Min.


Der erste Satz: Von Henriette Bernhard, geborene Schöning, soll hier die Rede sein. Von ihrem Mut und Übermut, von ihrem Glück und Unglück, von ihrer Schuld und Unschuld und dem Bedürfnis, das Richtige zu tun.

Ein Noir-Gerichtskrimi, der sich mit einem grausigen Kapitel der deutschen Nachkriegszeit beschäftigt. Henriette Bernhard, geborene Schöning ist im April 1970 angeklagt, das Haus ihrer Eltern angesteckt zu haben, wobei sie den Tod ihres Vaters in Kauf nahm. Die Angeklagte schweigt. Elsa Brennecke, die beste Freundin aus Kindheitstagen macht sich auf, dem Prozess zu folgen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Henni die Täterin war und sie bemüht sich, Entlastungszeugen für die Frau zu finden. Ein Jurastudent spricht sie an, er wolle seine Diplomarbeit über den Fall schreiben, und er möchte von ihr wissen, wie es damals in Monschau war, alles über Hennis Familie wissen, und auch er begibt sich auf Spuren, die die Unschuld beweisen könnten. Über Elsas Bericht geht es zurück in die Nachkriegszeit.

Träume zerbrechen

Ja, ja! So einfach machen die sich das. Legen sich die Dinge zurecht. Hier ein bisschen was verschweigen, da ein bisschen was dazutun, und fertig ist die Wahrheit.

Hennis Vater, Herbert Schöning, arbeitete vor dem Krieg als Uhrmachermeister in Monschau. Maria, seine Frau, blieb mit den vier Kindern Henni, Johanna, Matthias und Fried zurück, als ihr Mann in den Krieg eingezogen wurde. Er kehrte zwar körperlich unversehrt heim, doch ein Kriegstrauma hatte ein Zittern bei ihm zurückgelassen, so dass er als Uhrmacher nicht mehr arbeiten konnte. Aber nicht nur das, er entschloss sich, der Kirche zu dienen – der Pfarrer allerdings zahlte ihm keinen Pfennig. Die Familie musste von irgendetwas leben, Maria suchte sich Arbeit in einer Gastwirtschaft als Kellnerin. Henni, ein aufgewecktes Mädchen, erhielt die Empfehlung, die höhere Schule zu besuchen, was der Vater verweigerte. Und als die Mutter früh verstarb, trat sie in ihre Stapfen: Sie erzog die Geschwister, machte den Haushalt, arbeitet in der Gastwirtschaft – der Vater kümmerte sich um nichts, verbrachte derweil die Zeit in der Kirche. Schnelles Geld konnte man mit Kaffeeschmuggel verdienen – Kaffee aus dem benachbarten Belgien. Die furchtlose Henni stieg in das Geschäft ein, wagte sich sogar auf Pfade, die durch das gefährliche Moor über die Grenze führten. Das konnte nicht auf Dauer gut gehen. Sie wurde erwischt und man steckte sie 1951 in eine Besserungsanstalt, ihre Schwester wurde bei diesem letzten Coup erschossen. Die Brüder kamen in ein kirchlich geführtes Heim, weil der Vater meinte, dort seien sie besser aufgehoben.

Authentische Nachkriegszeit

Wie soll man ihr gerecht werden, wenn man eingestehen muss, dass es die eine Wahrheit über sie nicht gibt, nie gegeben hat? Auch in den Polizeiakten findet sie sich nicht, dort am wenigsten. Wenn man nur sagen könnte, womit alles angefangen hat. Wenn man sagen könnte: An dem Tag, da sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen! Aber so einfach ist das nicht.

Der Roman ist in zwei Zeitebenen geschrieben, die sich abwechseln. Der Prozess 1970 und die Geschichte der Familie Schöning, der längere Strang. Stück für Stück rollt sich Hennis Leben auf. Kriegstraumata – darüber wurde damals nicht gesprochen – wer körperlich unversehrt ist, der kann doch arbeiten. Hennis Vater gilt im Dorf als faul, insbesondere, weil er nur noch in der Kirche hockt, dem Pfarrer als Küster zur Hand geht. Henni schreibt die Kirche an: Der Pfarrei steht ein Küster zu, den der Pfarrer zahlen muss – was nie geschehen wird. Henni gilt als frech und aufsässig beim Pfarrer. Sie trägt Hosen! Wir erfahren authentisch geschrieben vom Leben in der Erziehungsanstalt der Nachkriegszeit – und wie Hennis Leben sich entwickelte. Die Brüder von Henni landen in einem kirchlichen Heim, dessen Erziehungsmethoden noch schlimmer sind. Die hier dargestellten Passagen sind ungeschönt. Damals hieß es Fürsorgeerziehung der Bundesrepublik Deutschland, inklusive Jugendamt. Die Zustände in den Heimen wurden von der APO angeprangert. Als erste Medienvertreterin beschrieb 1969 die Journalistin Ulrike Meinhof die Situation von Kindern und Jugendlichen in Heimen. In die Öffentlichkeit gebracht, bewegte das eine langsame Änderung, die sich bis Mitte der 80-er fortzog. Auch beschreibt Mechtild Borrmann sehr gut die Behördeninstanzen, die fast die gleiche Brutalität innehatten, wie die Kirchengewalt. Man darf nicht vergessen, dass nach dem 2. Weltkrieg die identischen Leute an den Schalthebeln saßen, wie unter dem NS-Regime: Richter, Staatsanwälte, Ärzte, hohe Beamte usw. Diese Personen entschieden in ihren obersten Gremien, wer als Nazi galt und wer nicht. Die Amerikaner machten den Fuchs zum Hüter des Gänsestalls. Natürlich rollten dort kaum Köpfe, denn sie sahen es so, dass man sich nichts vorzuwerfen hatte, in der NS-Zeit nur nach geltendem Recht gehandelt hatte … Gerichte, Fürsorgeamt (heute Jugendamt), Ärzte, Kirche, alle hatten Zucht und Ordnung im Kopf, und sei es, diese mit brutalen Mitteln durchzusetzen. Der «Übeltäter» ist übel, muss gebrochen werden.

Deutsche Wirklichkeit nach dem 2. Weltkrieg

Dieser Roman zeigt brutal die gesellschaftliche deutsche Wirklichkeit nach dem 2. Weltkrieg. Für die jüngere Generation ein Verständnis dafür, wie die APO (die sogenannten wilden 68-er) entstehen konnte, auch die Bader-Meinhof-Gruppe. Der Roman ist spannend, wirklichkeitsnah, historisch interessant. Eine Mischung aus Gerichtskrimi und Historischem, ein Noir-Krimi – absolute Empfehlung!


Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete, war sie u.a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Mit «Wer das Schweigen bricht» schrieb sie einen Bestseller, der mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde. Für den «Geiger» wurde Mechtild Borrmann als erste deutsche Autorin mit dem renommierten französischen Publikumspreis «Grand Prix des Lectrices» der Zeitschrift Elle ausgezeichnet. 2015 wurde sie mit «Die andere Hälfte der Hoffnung» für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.



Mechtild Borrmann 
Grenzgänger
Sprecher: Vera Teltz
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 59 Min., Audible
Roman, Gerichtskrimi, Noir-Krimi, historischer Krimi
Droemer Verlag, 2018, TB 2019


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Meine geniale Freundin von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante

Die Neapolitanische Saga Band 1 Ein moderner Klassiker als Graphic Novel umgesetzt – ich war gespannt, da Elena Ferrante sehr ausführlich in ihrer Tetralogie nicht nur die Freundschaft zwischen Elena und Lila beschreibt, sondern gleichzeitig ein Sittengemälde der Zeit wiedergibt, soziale und politische Strukturen aufnimmt, die Übernahme der Camorra in Neapel beschreibt. Wenn ich das zusammenziehe, ist der Comic missglückt. Denn der bezieht sich wirklich nur auf einen wesentlichen Kern: auf die Beziehung zwischen Elena und Lila, zwei Lebensläufe, die gemeinsam beginnen, aber auseinanderdriften. Zeichnerisch ist das Buch sehr gelungen.  Weiter zur Rezension:    Meine geniale Freundin von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante