Direkt zum Hauptbereich

Every von Dave Eggers - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Every 


von Dave Eggers


Aus der ersten Seite:
‹Sie sind hierher gelaufen?«, fragte der weibliche Wachposten. ROWENA, ihrem Namensschild nach, war um die dreißig, schwarzhaarig und trug ein adrettes gelbes Top, hauteng wie ein Fahrradtrikot. Als sie lächelte, kam eine charmante Lücke zwischen ihren Vorderzähnen zum Vorschein.
Delaney nannte ihren Namen und sagte, sie habe ein Vorstellungsgespräch mit Dan Faraday.
‹Finger bitte›, sagte Rowena.
Delaney drückte ihren Daumen auf den Scanner, und auf Rowenas Monitor erschien ein Raster aus Fotos, Videos und Daten. Es waren Fotos von Delaney, die sie selbst noch nicht gesehen hatte – war das eine Tankstelle in Montana? ...
‹Sie haben sich die Haare wachsen lassen›, sagte Rowena. ‹Sind aber immer noch ziemlich kurz.›

Circle heißt nun Every

Dies ist die Fortsetzung der Dystopie «Der Circle» (Verfilmung mit Emma Watson und Tom Hanks), ich hatte den Roman nicht gelesen, sondern den Film geschaut. Acht Jahre später, liegt nun die Fortsetzung vor: der «Circle» hat weiter an Macht gewonnen. Gehen wir zurück: In «Circle», gleichnamiger, riesiger Social Media-Konzern, lässt sich eine junge Frau einstellen, skeptisch gegenüber Bespitzelung der User gestimmt, wird dann aber die fanatischste Verfechterin der flächendeckenden Überwachung aller Menschen – einschließlich dem sozialen Bashing bei Fehlverhalten durch alle User. Das endet im Desaster. Dieser Konzern ist neu aufgestellt, heißt nun Every, ist der beliebteste Arbeitgeber schlechthin. Every ist everywhere – auch in diesen elektronischen Dingern, die in jedem Haushalt stehen (wir würden sie Alexa nennen). Man versichert: Niemand wird abgehört. Es ist ein Metakonzern – upps, Meta ... – der alles bestimmt, so etwas wie Google, Facebook, Instagram, Amazon, WhatsApp, Fitnesstracking, Musik-App und Buchshop zusammen. Aber noch viel mehr, mit «nützlichen» Apps, Ratschlägen zur Fitness, zum Essen, zum Einkauf (nimm doch nicht das, sondern dies hier, das ist nachhaltiger), behilflich bei der Lebensberatung.

‹Soll ich dir ein Lied vorsingen?›, fragte das Stinktier.
‹Nein Danke› ...
Delaney stand auf und betätigte die Spülung. Nichts geschah, aber das Cartoon-Stinktier erschien auf dem Wallscreen hinter der Toilette. ‹Keine Absonderung erfolgt. Keine Spülung notwendig!›, sang das Stinktier. ... 
‹Warte Partner!›, sagte das Stinktier ... ‹Erst Hände waschen. Denk dran, mindestens zwanzig Sekunden. Ärztliche Anweisung!› Auf dem Screen begann das Stinktier, sich ebenfalls die Hände zu waschen, und sang dabei Happy Birthday.

Diese App dient der sozialen Unruhe

Dieser Roman beginnt ähnlich. Die Heldin heißt Delaney, und sie will den Konzern vernichten. Ins Innerste wird sich nicht eindringen können, um Schadsoftware zu installieren. Darum hat sie eine KI-App entwickelt, die erkennen kann, ob der Mensch, mit dem man kommuniziert, lügt. Du willst wissen, was deine Freunde fühlen, denken? Sie sagen, es geht ihnen gut. Stimmt das? Ihnen gefällt dein neues Kleid. Stimmt das? Wenn Delaney es schafft, dass man sie bei Every einstellt und ihre App den Usern anbietet, dann werden sie sich von allein sich von Every abwenden – denn irgendwann muss doch jeder merken, dass Überwachung nur unfrei macht. An diesem Punkt werden die Leute aussteigen, denn diese App dient der sozialen Unruhe. So die Theorie. Sie hat Glück, sie wird eingestellt und man ist begeistert von ihrer App. Auf der öffentlichen Toilette macht Delaney Bekanntschaft mit der Stinktier-KI ... ist gleich genervt. Wie kann man sich nur so gängeln lassen?


Georg Orwell lässt grüßen

Im Laufe der Jahre, lange vor Goleta, waren Kongressabgeordnete, Gouverneure und Präsidentschaftskandidaten immer wieder gescheitert – waren spektakulär in Flammen aufgegangen –, als sie ersuchten sich mit Every anzulegen. Ausnahmslos alle sahen sich plötzlich in Skandale verstrickt. Immer gab es Berge von Beweisen, die praktischerweise direkt an Social Media und Staatsanwälte gingen. ... Immer ging ein digitaler Mob auf sie los, der diese Schwächen und Verfehlungen breitwalzte.

Allerdings ist auch das Publikum begeistert von Delaneys App. Verdammt! Delaney denkt sich weitere fiese Überwachungsmechanismen aus, um die User kollabieren zu lassen ... Die Mitarbeiter von Every arbeiten und wohnen auf dem Every-Campus, sind völlig abgeschottet vom Rest der Welt, es gibt nur wenige, versteckte Ecken, die nicht kameraüberwacht und belauscht werden. Eine Wohlfühlblubberblase. Hier gibt es kein Plastik, auch ist jede Art von umweltschädlichem Material, Fleisch usw. verboten. Triggerwarnungen zu Kleinigkeiten sind gang und gäbe. Jeder Satz, jedes Wort, jedes unterlassene freundliche Wort, jeder Blick, wird bewertet. Sei immer positiv und nett, optimiere jeden Tag dein Handeln, deine Sprache. Ich las den Roman mit einer gewissen Faszination, eine Mischung aus Dauerginsen, der sich beim Nachdenken in Erschrecken verwandelt. Was ist möglich, wie weit wird sich die Mehrheit ausspionieren lassen? Privatsphäre abgeschafft, bzw. sie gilt als unfein. Die Gesellschaft läuft im Gleichschritt. Bitte alles und jeden bewerten, das ist Pflicht! Gekauft wird, was alle wollen, wer sich für ein anderes Produkt entscheidet, als die Masse, gerät in denn Verdacht, ein Kollaborateur zu sein. Es gibt nur noch elektronische Bücher, die darauf untersucht werden, an welcher Stelle die Leute querlesen oder abbrechen. Diese Stellen werden nachgearbeitet, weggelassen, interessanter gestaltet, Charaktere verändert – auch Klassiker. Georg Orwell lässt grüßen. Allerdings begeben sich diese Menschen freiwillig in die Überwachungs-Tyrannei und fordern die Totalüberwachung. Ab der Mitte habe ich ein wenig die Lust verloren, weil sich eine Art Dauerschleife einstellte. Delaney wandert von einem Sachgebiet in die nächste Abteilung, immer noch einen Überwacher draufzusetzen mit ihrer Kreativität. Ich habe auf den Knall gewartet ... 

Ein wenig zu lang gezogen


Datengold! Wir kennen dich! Die Kriminalitätsrate sinkt, aber auch die Ehrlichkeit. Sag nicht deine Meinung: Nein, deine neuen Schuhe gefallen mir nicht. Ein negativer Satz, und schon hast du eine schlechte Bewertung. Am Ende des Tages wird alles zusammengerechnet: dein Benehmen, deine Fitness, dein Essverhalten, dein Schlafverhalten usw. Hast du brav alles bewertet, mit deiner Mama telefoniert, genügend gute Fotos in Social Media abgesetzt? Jeder will ein guter Mensch sein, einen guten Score bekommen. Nur deine Gedanken, die sind noch frei – bis Delaney auf den Plan tritt! Im Grunde fand ich den Roman gut, bis auf die Tatsache, dass mir zu viel Wiederholung den Plot stellenweise langweilig machte. Ich denke, um 200 Seiten gestrafft, hätte die Dystopie mehr Power gehabt.


Dave Eggers, geboren 1970, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Roman «Der Circle» war weltweit ein Bestseller. Sein Werk wurde mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet. Der Roman «Ein Hologramm für den König» war nominiert für den National Book Award, für «Zeitoun» wurde ihm u.a. der American Book Award verliehen. Dave Eggers stammt aus Chicago und lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Nordkalifornien.



Dave Eggers
Every
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Dystopie, amerikanische Literatur, Überwachungsstaat, Künstliche Intelligenz
Hardcover mit Schutzumschlag, 592 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 2021




Fantasy, Fantastic, Dystopien

Hier bin ich leider in letzter Zeit etwas ratlos. In dieser Rubrik wird wenig auftauchen. Leider habe ich das Gefühl, dass hier keine neuen Ideen kommen. Ich mag nicht immer wieder das gleiche Buch in Abwandlung lesen ... Aber auch hier lasse ich mich gern überraschen. Meist findet man unter den Dystopien doch mal was Neues.
Fantasy

Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Spanischer Totentanz von Catalina Ferrera

Der erste Barcelona-Krimi, »Spanische Delikatessen«, von Calina Ferrera hatte mir als Hörbuch gefallen: leichte Story mit Lokalkolorit, feiner Humor, spannende Geschichte. Leider konnte mich der zweite Band nicht überzeugen. Weder Spannung noch ein Gefühl für die Stadt kam auf. Touristische Beschreibungen und Restaurantbesuche lähmen eine durchschaubare Kriminalgeschichte, die die Mossos d’Esquadra auf den Cementiri de Montjuïc und die Zona Alta führt. Weiter zur Rezension:    Spanischer Totentanz von Calina Ferrera

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v