Direkt zum Hauptbereich

Die Entmieteten von Synke Köhler - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Die Entmieteten 

von Synke Köhler


Der Anfang: Das dumpfe Geräusch verebbte die ersten beiden Male ergebnislos.Andi fuhr den Seilbagger drei Meter zurück, ließ die Abrissbirne fünfmal hin- und herpendeln, immer weiter ausladend, bis der entsprechende Schwung erreicht war.

Der Roman beschreibt das Geschehen um ein vom Abriss bedrohtes Mietshaus im Osten Berlins, Prenzlauer Berg. Stück für Stück entsteht aus diesem alten Quartier ein Juppistadtteil, die Mieten steigen ins Unermessliche. Alte Häuser werden im Eiltempo saniert oder schlicht abgerissen, Neubauten entstehen: die Appartements groß, modern, teuer. Die Mieter hier erhalten die Kündigung, mögen sich an eine Mietberatung wenden, die zur Unterstützung bereitsteht. Viele greifen zu, denn man ist behilflich eine neue, bezahlbare Wohnung zu finden, der Umzug wird beglichen und wer sich sofort entscheidet, erhält 10.000 Euro obendrauf. Aber nicht alle möchten aus diesen kleinen Wohnungen verschwinden. Es ist ihr Quartier, ihre Heimat, sie haben kein Interesse, sich irgendwohin an den Stadtrand verdrängen zu lassen. Sie schließen sich zusammen, um sich zu wehren.

Im Vorbeigehen wischte der bullige Typ mit dem Fuß die auf den Stufen liegenden Spielzeugteile zur Seite, so dass einige von ihnen absichtlich, halb unabsichtlich unter seinen klobigen Schuhen zersplitterten. Drei Keller waren bereits vollkommen leergeräumt, auch Kathleens Holzverschlag.

Der Müll wird nicht mehr abgeholt. Die Bäume vor dem Haus werden gefällt. In den Häusern ringsherum knallt laut den ganzen Tag die Abrissbirne. Eines Tages entdecken die Mieter, dass jemand ihre Keller leerräumt, den Inhalt in eine Schreddermaschine wirft! Gas wird abgestellt im Winter, es gibt kein Wasser mehr. die Entmietung läuft voran. Die Marner Straße, eine Insel der Urgesteine Berlins im längst gentrifizierten Prenzlauer Berg ist der Handlungsort. Dieter Sonntag organisiert den Widerstand, wogegen aber seine Frau nichts dagegen hätte in eine neue Wohnung zu ziehen, größer, eine mit Balkon. Markus Amreiter, ein Journalist, schließt sich dem Widerstand an, wie auch die Studentin Kathleen, wenn auch ein wenig halbherzig. Grozki, einst ein angesagter Rockstar in der DDR, rockt nun mit anarchistischen Aktionen die Gegenwehr.

Jalousien waren heruntergerissen worden, zerfetzte Münder, schreiender Verfall.

Parallel wird die Geschichte von Verena Wilke erzählt, die sogenannte Mieterberaterin, deren Job es letztendlich ist, die Mieter aus ihren Wohnungen herauszubekommen. Sie steht unter dem Druck des Hausbesitzers,  arbeitet auf Provision. Sie kennt alle Tricks der Kommunikation. Die einzige Figur, die mich einnehmen konnte. Aber ist die Realität genau so? Diverse Angebote für eine schicke neue Wohnung und Geld obendrauf? Wo es keinen Wohnraum gibt, kann man doch auch nichts Bezahlbares anbieten, das ist doch die Crux. An dieser Stelle ging mir das zu glatt über die Bühne. Ein spannendes Thema, eine spannende Geschichte erwartet mich – so vermutete ich jedenfalls.

Es war jetzt der dritte Tag, dass sie Wasser holten, der dritte Tag ohne Wasser, der dritte Tag, seitdem das Wasser abgestellt worden war, seitdem die Leitung aus Unachtsamkeit, wie Windinger über Verena ausrichten ließ, beschädigt worden war. Dieter Sonntag überquerte mit dem Kanister die Straße.

Es gibt gute Passagen, satirische Stellen, die mir gefallen haben. Aber insgesamt ist mir die Autorin die Ereignisse zu kopflastig angegangen. Der Erzählfluss stockte, ich wurde immer wieder herausgeworfen aus der Geschichte, die sich zähflüssig wie Lava den Berg herunterarbeitet. Die Perspektive ist auktorial und sehr distanziert, die Story im Perfekt geschrieben, was natürlich auch das Tempo bremst. Spannung kam bei mir nicht auf, ich habe mich durchgekaut. Das Ende versöhnt ein wenig, da es eben nicht vorhersehbar ist. Und weil das Ganze so verkopft erzählt wird, bleiben mir auch die Protagonisten recht fern. Es wird zurückgeblickt, in ihre DDR-Geschichte, was mir gefallen hat, ein Mensch ist geprägt durch seine eigene Historie. Aber im Ganzen fehlt mir Lebendigkeit, der Kietz. Die Figuren bleiben blass – letztendlich habe ich nicht einmal ganz verstanden, warum die Verbliebenen wohnen bleiben, konnte die Verwurzelung in den Kietz nicht spüren – und das ist bitter. Der Leser erlebt das Haus, die Muffigkeit der winzigen Wohnungen – ein Kammerspiel. Mich hätte die Gesamtheit interessiert, die Straße, der Stadtteil, die Veränderung Stück für Stück – Gentrifizierung, was macht das mit einem? Eine Entmietung hat seine Vorgeschichte, wie auch der Mensch eine hat. Am Ende klappe ich den Roman mit gemischten Gefühlen zu.


Synke Köhler stammt aus Dresden. Sie ist Psychologin, Grafikerin, studierte an der Drehbuchwerkstatt München und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie erhielt Auszeichnungen und Stipendien, darunter den Wartholz- Newcomer-Preis und den 2. Preis des Würth-Literaturpreises. Für die Arbeit an diesem Roman wurde sie unter anderem mit dem Lüneburger Heinrich-Heine-Stipendium und dem Aufenthaltsstipendium im Alfred-Döblin-Haus in Wewelsfleth unterstützt. Synke Köhler lebt in Berlin-Friedrichshain, sie ist inzwischen selbst von Verdrängung bedroht und unfreiwillig zur Mietaktivistin avanciert.


Synke KöhlerDie Entmieteten
Roman, Satyr Verlag, gebunden, 256 Seiten

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe