Rezension
von Sabine Ibing
Der Magier im Kreml
von Giuliano da Empoli
Die Stimme in Putins Kopf
Tatsächlich wurden wir nach einem kurzen Gang durch das Sekretariat in ein Büro geführt, das aussah wie der Arbeitsplatz eines Abteilungsleiters des Postministeriums. Darin ein blasser, blonder Mann, der farblos wirkte, einen beigen Anzug aus Acryl trug und in dessen Angestelltenmiene ich einen kaum merklichen Hauch von Sarkasmus wahrnahm. 'Wladimir Putin', sagte er und schüttelte mir die Hand.
Damals war der Zar noch nicht der Zar: Von seinen Gesten ging noch nicht diese unnachgiebige Autorität aus, die er später an den Tag legen sollte, und obwohl sein Blick bereits die mineralische Härte ahnen ließ, die wir heute von ihm kennen, war sie wie verschleiert durch das bewusste Bemühen um Kontrolle. Nichtsdestotrotz hatte seine Gegenwart eine beruhigende Wirkung
Man nennt ihn den «Magier im Kreml». Wadim Baranow ein Regisseur und Produzent von Reality-TV-Shows wird von Putin entdeckt als Marketingmanager. Die graue Eminenz, die sämtliche Propaganda im Griff hat. Eine fiktive Figur des Autors, hinter der sich Wladislaw Surkow verbirgt, der tatsächlich existiert hat. Surkow, genannt der «graue Kardinal» oder Putins Rasputin, galt lange als einer der mächtigsten Männer Russlands - und als Architekt der russischen Ukraine-Politik. Doch 2020 hatte Putin seinen langjährigen Berater entlassen. Er schrieb einmal, Putin habe den Staat voll durchorganisiert, wobei Staat, Wirtschaft und Privateigentum miteinander eins sind, «auf organische Weise entstandenes politisches Organisationsmodell ... ein effektives Mittel für das Überleben und Erheben der russischen Nation sein wird – und dies nicht nur auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte hinaus, wahrscheinlich aber für das gesamte kommende Jahrhundert.» Und darum geht es in diesem Roman: Der Aufstieg des unscheinbaren Vladimir Putin zum Zaren und der Ausbau eines völlig durchstrukturierten Systems – eine Propagandawelt, die mit Gewalt regiert. Wer von seinem ihm zugewiesenen Posten abweicht oder Fragen stellt, wird eliminiert. «Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.» Surkow bezeichnet sich selbst als einen der Autoren des Putinismus, des neuen russischen Systems und er wurde als dritter Mann im Staat gehandelt, der Mann, der moderne Potemkinschen Döfer baut. Nach den Olympischen Spielen in Sotschi verschwand er – Legenden wurde um ihn herum gebaut – doch niemand weiß, wo er wirklich abgeblieben ist.
Jelzin war zu einer Last geworden. Er war mittlerweile nicht mehr außerstande, sie zu schützen, es bestand auch die Gefahr, dass er sie alle in den Abgrund stürzte.
Eines abends wird der Ich-Erzähler, ein französischer Literaturwissenschaftler, der bereits seit einiger Zeit in den Moskauer Archiven forscht, auf ein Anwesen eingeladen. Hier berichtet ihm eine Nacht lang der ehemalige Putin-Berater Wadim Baranow über sein Leben. Dieser oberste Spin-Doctor, Imageproduzent, Propagandist von Vladimir Putin – des Kremls oberste Story-Machine – berichtet, wie er Putin kennenlernte und ihm zu seinem Aufstieg verhalf, zu seiner Macht. «Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.» Dieser Roman führt uns ins Zentrum der russischen Macht, wo permanent Intrigen gesponnen werden. Und wo Wadim, ein ganzes Land in ein politisches Theater verwandelt, in dem es keine andere Realität als die Erfüllung der Wünsche des Präsidenten gibt. Er gerät immer tiefer in die Machenschaften des Systems, das er selbst mit aufgebaut hat, und wird alles daransetzen, um dort wieder herauszukommen. Er nimmt den Erzähler mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis, ein Roman über das zeitgenössische Russland und die Entstehung seiner medial inszenierten und vollkommen fiktiven, aber auch tödlichen Realität, einem Imperium der Lüge.
Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflößen.
Ein fiktiver Roman, der sich aber sehr genau an reale Personen und Ereignisse hält. In einem Roman kann man mit Emotionen agieren, den Protagonisten in den Kopf schauen. Das macht es für den Lesenden interessant – etwas, was ein Sachbuch nicht darf. Das Buch liest sich wie eine Reportage, spannend genießen wir Einblick in die Person Putin, ein Psychogramm. «Sie müssen eines begreifen: Der Zar äußert sich nie sehr genau, aber er sagt auch nie etwas rein zufällig.» Auch der tickt nach bestimmten Mustern. Der Aufbau des neuen Russlands, eine Show – und es gibt uns Verständnis zur Gegenwart und des Angriffskriegs auf die Ukraine. Herrlich wird beschrieben, wie man den besoffenen und todkranken Jelzin in seinen letzten Stunden öffentlich präsentiert; mit einem Brett im Rücken, damit er halbwegs gerade sitzt, angebunden, weil er sonst vom Stuhl fallen würde. Die Lippen bewegend ohne einen Ton, der später durch alte Reden zusammengeschnitten wird. Oligarchen der ersten Stunde – Boris Beresowski und Michail Chodorkowski, ihr Aufstieg und Abgang. Ein Panoptikum: inszenierte Oppositionsparteien, die man herrlich als «nützliche Idioten» in der Propaganda ausschlachten kann.
Die Politik verfolgt ein einziges Ziel: Sie reagiert auf die Ängste der Menschen. Deshalb wird der Staat in dem Moment, in dem er nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger vor Angst zu schützen, bis auf die Grundfesten seiner Existenz wieder infrage gestellt.
Dem Bürger die Angst nehmen, sich vor irgendetwas fürchten zu müssen; Väterchen Staat hat alles im Griff und wird auf das Land aufpassen. Doch vor Väterchen Staat sollte man Angst haben; wehe dem, der ihn kritisiert. Chaos muss über der Ordnung schweben. Wahrheit oder Lüge, dass muss immer die Frage sein; alles was passiert kann richtig oder falsch sein, wahr oder inszeniert – aber über allem steht stets die Ordnung. Putin erklärt, warum Stalin beliebt ist: eben wegen seiner Massaker! Passierte ein Zugunglück, ließ Stalin den Bahndirektor wegen Sabotage erschießen, als das Fleisch knapp war, wurde der Landwirtschaftsminister vor Gericht gestellt und es wurde ihm unterstellt, er habe Unmengen von Vieh geschlachtet, um einen Aufstand gegen das Regime anzuzetteln. Usw. Und genau darum wird Michail Chodorkowski verhaftet. Das System Stalin kopiert. «Das wesentliche der Hierarchie liegt im Detail. Und dass ein winziger Kontrollverlust einen Riss im Gebäude verursachen kann.» Diese Macht der Russen ist ein Mythos, aufgeblasen durch Propaganda – und die ganze Welt glaubt es. Der Roman zeigt ein Gesellschaftsporträt des zeitgenössischen Russlands. Und wer am Ende angekommen ist, wird sich nicht der Illusion hingeben, Putin würde jemals selbst die Krieg in der Ukraine beenden. «Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nur folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte.» Ob dieses Russland jemals in naher Zukunft zu einer Demokratie wachsen kann, wird man bezweifeln. Ein feiner Roman, der ins Herz des Kremls blickt, rekapituliert und ein gutes Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge bringt, die uns für den heutigen Umgang mit Russland schärfen.
In jeder Revolution gibt es einen entscheidenden Moment: den Moment, in dem die Truppe gegen das Regime aufbegehrt und den Schießbefehl verweigert. Das ist Putins Albtraum und der aller Zaren vor ihm.
Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.
Der Magier im Kreml
Originaltitel: Le mage du Kremlin
Aus dem Französischen übersetzt von Michaela Meißner
Zeitgenössische Literatur, politischer Roman, Biografie, Reportage, historischer Roman, Propaganda, Putin, Putin-Ära, Moskau, Russland, Kreml, Fake News
Hardcover, 268 Seiten
C.H.Beck, 2023
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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