Direkt zum Hauptbereich

Der kleine Gehirnversteher von Lionel Naccache und Karine Naccache - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der kleine Gehirnversteher 


von Lionel Naccache und Karine Naccache

Eine Erkundung unseres geheimnisvollsten Organs


Ehre wem Ehre gebührt: Unser erstes Wort lautet daher ‹Gehirn›. Ein Organ, das Ihnen lieb und teuer ist und das Sie gern besser kennenlernen würden. Leider behindert eine Fachsprache, bei der Sie eher Bahnhof als Gehirn verstehen, häufig den Zugang, weshalb Sie nicht selten den Eindruck haben, eine fremde Sprache zu hören.

Eins ist uns klar: Ohne Gehirn geht gar nichts. Ohne Gehirn können wir unseren Körper nicht steuern, schon gar nicht können wir denken. Hirntod = tot? Aus dem Verlust des Bewusstseins, an dem letztlich alles hängt, was wir dem Menschsein zuschreiben, lässt sich eine Todesdefinition heranziehen. – Es gibt hierzu andere Meinungen, die ich selbstverständlich respektiere. Aber was genau ist Funktion der grauen Masse in unseren Köpfen, wie funktioniert das System? In diesem Sachbuch finden wir endlich unkomplizierte Erklärungen zur Neurowissenschaft – wirklich verständlich für jedermann, dazu noch unterhaltsam formuliert.

Klebstoff, Müllabfuhr, Seepferdchen, Trennbalken

Doch nicht nur die Neuronen selbst kommunizieren untereinander, sie ermöglichen durch ihre Kommunikation auch allerlei andere Prozesse, die nicht stattfinden könnten, wenn die Neuronen voneinander isoliert wären.

Der französische Hirnforscher Lionel Naccache hat zusammen mit seiner Frau, der Romanautorin Karine Naccache in 35 Kapiteln das Wichtigste zusammengefasst. Es beginnt mit den Rohstoffen, Molekülen und Gehirnzellen: Neuronen kommunizieren miteinander durch Synapsen, die Gliazellen sind der «Kitt, der Klebstoff» zwischen den Neuronen, sie sind für die Aufnahme von Sauerstoff und Nährstoffe zuständig, entsorgen den Abfall, legen sich um die Neuronen, um sie zu wärmen, umhüllen und isolieren behutsam die Axone, die langen Schwänze der Neuronen, die zu ihrer Kommunikation untereinander dienen. Die Gliazelle ist also ein echtes Muttertier. Unter dem Kapitel «Stoff und Inhalt» lernen wir das «Seepferdchen» kennen – benannt nach seiner Form, den Hippocampus, der in beiden Hemisphären zu finden ist. Die beiden beide Hippocampi transportieren Erinnerungen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Sind die Seepferdchen zerstört oder stark beschädigt, können keine neuen Erinnerungen mehr abgespeichert werden, die alten bleiben erhalten. Manch einer hat ein Brett vor dem Kopf, aber einen Balken haben wir alle im Gehirn. Der trennt die Hemisphären, die beiden Gehirnhälften. Wir besitzen zwei verschiedene Bewusstseine! Eins drückt sich über die Sprache aus, meist links – die rechte Hälfte ist u. a. für die Ausbildung von Kritikfähigkeit zuständig. Früher hat man per OP bei manchen Patienten den Balken entfernt, was zu seltsamen Dingen führte:

Bei Split-Brain Patienten führte diese Koexistenz von zwei getrennten Bewusstseinen mitunter sogar zu einem mehr oder wenigerdeutlich offenen Konflikt: Beispielsweise kann die rechte Hand des Patienten – gesteuert von der linken Hemisphäre – eine Kühlschranktür öffnen, während seine linke Hand – gesteuert von der rechten Hemisphäre – dieselbe Tür schließt. Sturm unter der Schädeldecke.

Warum wir beim anvisieren des Ziels im Rennen Flugobjekte oder Hundehaufen wahrnehmen

Wir erfahren etwas über den visuellen Cortex – unsere komplexe visuelle Wahrnehmung. Während wir uns bewegen, nehmen wir nicht nur das Gegenüber ins Visier, sondern wir checken das rundherum unbewusst mit ab. Ganz hinten im Hirn, weit weg von den Augen, spielt sich unser Sehen ab. Die eine Bahn nennt sich die «Was-Bahn» – Was steht mir gegenüber? Das Hirn ordnet das Gegenüber genau zu. Parallel betrachtet die Dorsalbahn das Wie. Die Dorsalbahn, die «Wie-Bahn» erfasst die Bewegung. Hier nennen die Autoren ein Beispiel: Hastet ein Tennisspieler einem Schmetterball hinterher und entdeckt in letzter Sekunde ein Hundehäufchen, dem er mit einem versetzten Schritt ausweicht, so ist dies die Arbeit der Dorsalbahn gewesen.

Das Gehirn verständlich erklärt

Am Ende gibt es eine kurze Erklärung zum Belohnungssystem des Menschen, das ihn antreibt, seine Sehnsüchte weckt. Ist dieses System zerstört, wird der Mensch völlig apathisch, es kommt zu einem völligen Antriebsverlust. Es gibt in diesem kleinen Buch eine Menge zu entdecken, verständlich geschrieben, mit Anekdoten angereichert.


Lionel Naccache ist einer der prominentesten französischen Neurowissenschaftler. Er forscht am renommierten Nervenkrankenhaus Hôpital Universitaire Pitié Salpêtrière und unterrichtet als Professor für Medizin an der Universität Paris VI.

Karine Naccache, geb. 1970, ist eine französische Schriftstellerin und Romanautorin.


Lionel Naccache und Karine Naccache
Der kleine Gehirnversteher
Originaltitel: Parlez-vous cerveau?, 2018
Aus dem Französischen übersetzt von Sabine Reinhardus
Sachbuch, Medizin, Hirnforschung, Neurowissenschaft
Hardcover 180 Seiten
C.H. Beck Verlag, 2019


Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

Rezension -MENSCH!: Eine Zeitreise durch unsere Evolution von Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies

  Die Entstehungsgeschichte der Menschheit als spannende Comic-Sachgeschichte präsentiert – lehrreich und humorvoll verpackt! Woher kommen wir? Wer waren unsere Vorfahren? Und ab wann lernten sie, mit Werkzeugen umzugehen? Diese Graphic Novel nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch die Evolution der Menschen, indem wir ihnen sozusagen hautnah begegnen. Wissenschaft meets Comic, Historische Fiction – Sachkinderbuch ab 10 Jahren, über die Evolution der Menschen – klasse gemacht! Empfehlung auch als Unterrichtsmaterial! Weiter zur Rezension:    MENSCH!: Eine Zeitreise durch unsere Evolution von Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Unser Deutschlandmärchen von Dincer Gücyeter

  Eine türkische Familiengeschichte, die mit der Urgroßmutter und der Großmutter einleitend beginnt. Die nächste Generation wandert nach Deutschland aus – das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt. Der Traum, den viele «Gastarbeiter» träumten: Arbeiten, viel Geld verdienen, nach Hause zurückkehren und ein Haus bauen. Und dann wurden aus den Gästen Einwohner. In Deutschland die Türken – in der Türkei die Deutschen – entwurzelt, nirgendwo wirklich zu Hause. Eine Familie, die sich bemüht hat, sich zu integrieren. Ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter – zwei völlig verschiedene Generationen, aber auch eine Abrechnung mit der deutschen Gesellschaft und eine mit dem Heimatland und dem Machismo, mit der Erniedrigung der Frauen. Ein hervorragender Gesellschaftsroman, ein Bildungsroman über Migration, Rassismus und Misogynie – meine Empfehlung! Weiter zur Rezension:     Unser Deutschlandmärchen von Dincer Gücyeter