Direkt zum Hauptbereich

Rezension - Lied vom Abendrot von Lewis Grassic Gibbon

Rezension





Lied vom Abendrot 

von Lewis Grassic Gibbon


»Unter und rings um Chris Guthrie, die ausgestreckt lag, wisperte und haspelte die Juniheide und schüttelte ihr Gewand, gelb vom Ginster und überhaucht mit Lila, die erste Blüte von Heidekraut, doch noch nicht ganz in voller Inbrunst seiner Farbe. Und im Osten gegen das Kobaltblau des Himmels lag das Glitzern der Nordsee, das war hinter Bervie, und in einer Stunde vielleicht mochte der Wind sich dort drehen, und dann mochtest du den Wandel schon spüren …«

Lieblingsbuch der Schotten


Ein grandioses episches Werk hat Lewis Grassic Gibbon hier abgeliefert. Laut einer Umfrage des britischen Nachrichtensenders BBC aus dem Jahr 2016 handelt es sich bei dem Roman »Sunset Song« (Originaltitel, erschienen 1932)  um das »Lieblingsbuch der Schotten«. Ich kann es verstehen. 
Der Wandel der Zeit ist spürbar in diesem Buch. Lewis Grassic Gibbon beschreibt mit großer Erzählkraft das Leben von Chris Guthrie, die zu Beginn des Romans zwölf Jahre alt ist, ihre Eltern bewirtschaften Land, das sie gepachtet haben. Im Jahr 1912 ist das Leben entsagungsreich, harte Arbeit bestimmt den Alltag. Die Eltern wollen ein besseres Leben für die Tochter, schicken sie zur Schule. Intelligent und fleißig, von den Lehrern gefördert, erhält sie ein Stipendium, geht auf’s Collage. 

»Doch es brachte dich trotzdem auf, wenn ein Mensch wie die Fordyce-Deern von Mr Kinloch gehätschelt wurde, wo sie ein Gesicht hatte wie eine zerbrochene Puddingform und eine Stimme wie ein Nagel auf Schiefer.«

Die Eltern wollen, dass sie Lehrerin wird, für Chris die Erfüllung ihres Lebens. Die Pacht der Eltern läuft aus, man zieht um, muss sich im neuen Dorf behaupten. Alles läuft gut. Die Eltern, ein liebendes Paar, setzen ein Kind nach dem anderen in die Welt. Die Mutter ist es irgendwann leid, es gibt nicht genug Platz, ihr Köper macht das nicht mehr mit. Sie wird trotzdem nochmal schwanger. Der Vater ist ein sehr störrischer Mann, neigt zu Wutanfällen, er ist sehr bestimmend, was den älteren Bruder von Chris in die Ferne treibt, er geht nach Südamerika. Die Mutter stirbt, sie ist ausgemergelt von den Schwangerschaften. Tante und Onkel haben keine Kinder, adoptieren die jüngeren Brüder. Chris ist allein mit dem Vater. Es gibt immer eine Ausrede, warum man bleiben muss. Auch der Vater stirbt bald danach, sie ist Alleinerbin. Endlich ist Chris frei. Sie erbt eine stattliche Summe Geld, könnte nun studieren, sie ist noch jung. Doch zwei Herzen schlagen in ihrer Brust. Sie liebt dieses Land – letztendlich kann sie sich nicht von der Erde trennen. Und sie verliebt sich …

»So sahs also bei Chris aus mit ihrem Lesen und ihrem Lernen, zwei Chris' gab es, die kämpften um ihr Herz und setzen ihr zu. Den einen Tag hasstest du das Land und das rohe Reden der Leute, und das Lernen war schön und recht, und am nächsten Tag wachtest du auf und hörtest die Kiebitze über den Hügeln rufen, tief und tiefer ins Herz riefen sie dir, und der Geruch der Erde wehte dir entgegen, und du mochtest fast weinen, weil es so schön war und so lieblich, das schottische Land und der Himmel darüber.«

Zeit der Veränderung, des Aufbruchs


Diese Epoche ist eine Zeit der Veränderung, des Aufbruchs. Frauen spüren, dass ihnen auch etwas zusteht, nicht nur die Industrie ändert sich, sondern auch, die Landwirtschaft geht neue Wege, Maschinen nehmen Einzug, der erste Weltkrieg verändert die Menschen, insbesondere die Soldaten die heimkommen. Frauen müssen allein klarkommen mit dem Hof während es Krieges, später die Kriegswitwen, noch schlimmer geht es denen, die einen traumatisierten Mann zurückerhalten. 

»So redest du mit mir‹, rief sie. Meinst du, ich bin deine Magd? Du bist mein Diener, merk dir das, lebst von meinem Korn und Käs, du Highland-Pracher!… Sie sagte noch mehr als das, das wusste sie, auch wenn ihr keine Erinnerung an die Worte mehr geblieben war, es war ein Nebel des Zorns, aus dem sie auftauchte, als Ewan sie an den Schultern packte und sie schüttelte.«

Chris Guthrie ist intelligent und weiß das zu nutzen, sie nimmt sich viel heraus, schon als Mädchen. Für die Verhältnisse ihrer Zeit würde ich sie als emanzipierte Frau bezeichnen. Erdbehaftet auf ihrem Land, klug genug um zu kalkulieren, ahnend, was die Zukunft bringen wird, mutig genug, auch alles selbst anzupacken, zeigt uns Lewis Grassic Gibbon eine Frau aus hartem Holz, die sich durch kein Unglück, keine Tradition und von ihrem Willen abbringen lässt. Aber sie bricht nicht, um sich zu emanzipieren, sie trennt sich nicht vom Bauernleben, wird Lehrerin, sie bleibt verwurzelt in ihrem Leben. Aber hier zeigt Chris, dass sie ein ganzer Kerl ist.

»Deern von Peesie’s Knapp mall und mucksch«  - »Kinraddie House die kruschkoppige Munrosche bannig eisch um die Ecke glüüstert.«

Lewis Grassic Gibbon besitzt gewaltige Sprachkraft


Lewis Grassic Gibbon bringt uns durch seine gewaltige Sprachkraft, durch den Sprachton, ein »Lied vom Abendrot«. Die Zeilen wirkten beim Lesen wie ein Sonnenuntergang am sommerlichen Strand. Ein Mann, der in der Lage ist, weibliche Gedanken zur Welt zu bringen, zu dieser Zeit, Hut ab, Herr Gibbon, denn Chris ist sehr empathisch. Im Original, in Englisch geschrieben, gibt es einige Szenen in hartem schottischen Dialekt. Der Dialekt der Bauern, im Gegensatz dazu das Englische, die Sprache der Gebildeten. In der Übersetzung, um den Kontrast zu wahren, wird hierfür als Grundidee das Plattdeutsche eingesetzt, aber auch Vokabeln aus dem Süddeutschen werden sichtbar. Manchmal wird diese Übersetzung unfreiwillig komisch, insbesondere, wenn es arg friesisch wird, Begrüßungen inklusive. »Moin.« – dann ist man raus aus Schottland … Doch … wie sollte man es lösen? Am Ende gibt es Übersetzungen zu Ausdrücken, Anmerkungen zu manchen Seiten, einen gezeichneten Lageplan.

James Leslie Mitchell lautet der bürgerliche Name von Lewis Grassic Gibbon. Er wurde 1901 als Sohn eines Kleinbauern in Aberdeenshire geboren, verließ er mit sechzehn Jahren die Schule und arbeitete als Journalist, beim Militär als Verwaltungsangestellter im Nahen Osten, in Indien und Ägypten. Nach seinem Austritt aus der Armee im Jahre 1929 ließ er sich als freier Autor in Welwyn Garden City nieder, starb 1935 an einer Blutvergiftung. Esther Kinsky übersetzte diesen Roman, sie selbst hat für ihren letzten Roman »Hain« 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten.












Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Yrsa von Alexandra Bröhm

  Journey of Fate (Yrsa. Eine Wikingerin 1)  Yrsa ist eine junge Wikingerin , die sich nach dem Tod der alleinerziehenden Mutter seit vier Jahren allein um ihrem Bruder Sjalfi kümmert. Als sie eines Tages von der Jagd nach Hause kommt, ist Sjalfi verschwunden. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche und den gefährlichen Weg nach Haithabu . Denn es heißt, es würden Kinder entführt und versklavt. Unterwegs lernt sie Krieger kennen. Ihr Traum war immer schon, eine Kämpferin zu werden. Der Krieger Avidh hat es ihr besonders angetan. Ich würde den Roman ins Genre Young Adult einordnen. Wer softe Literatur, einen Liebesroman zur Entspannung mag, liegt hier richtig.  Weiter zur Rezension:    Yrsa von Alexandra Bröhm

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Der Freund von Tiffany Tavernier

  Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Die einzigen Nachbarn weit und breit, gleich nebenan, Guy und Chantal. Eins Tages im Morgengrauen stürmt die Polizei das Gelände. Die Nachbarn und gute Freunde, werden in Handschellen abgeführt. Was haben sie getan? Journalisten belagern das Gelände. Ein psychologischer Kriminalroman , der sich mit den Folgen der «Opfer» befasst, denn letztendlich sind die schockierten Freunde auch Opfer des Massenmörders. Weiter zur Rezension:    Der Freund von Tiffany Tavernier

Rezension - Rath von Volker Kutscher

  Gelesen von David Nathan Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 49 Min. Gereon und Charlotte Rath warten im Herbst 1938 nur noch auf den richtigen Moment, Deutschland zu verlassen, um nach Amerika zu gehen. Sie treffen sich heimlich in Hannover , denn Charly lebt immer noch in Berlin und Gereon, der als verstorben gilt, wohnt inkognito in Rhöndorf am Rhein , weil er seinen im Sterben liegenden Vater nicht im Stich lassen will. Charly sucht ihren ehemaligen Pflegesohn Fritze, der ausgerissen ist und unter Mordverdacht steht. Als sich die Lage zuspitzt, muss Gereon sein Versteck verlassen und Charly zu Hilfe kommen, nach Berlin reisen. Der 10. und letzte Band der Gereon Rath-Reihe - wie immer hochspannend, historisch gut recherchiert. Noirliteratur , ein feiner literarischer Krimi ! Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Rath von Volker Kutscher