Direkt zum Hauptbereich

Am Tag davor von Sorj Chalandon - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Am Tag davor 


von Sorj Chalandon


Der Anfang: Joseph, eng an mich geschmiegt. Er auf dem Gepäckträger, breitbeinig über den Satteltaschen wie ein Cowboy beim Rodeo. Ich über den Lenker gebeugt, die rechte Hand auf dem Gashebel.

Der 16-jährige Michel braust mit seinem geliebten großen Bruder Joseph, einem Bergmann, auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Der nächste Tag wird diese Stadt verändern: Am 27. Dezember 1974 kommen durch eine Wetter-Explosion in der Zeche Saint-Amé in Liévin 42 Bergmänner aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung ums Leben. Sämtliche Sicherheitsvorkehrungen waren trotz bekannter Risiken außer Kraft gesetzt. Die Witwen erhalten am Ende des Monats die makabere Lohnabrechnung: Drei Tage sind abgezogen, «ungeklärte Abwesenheit», ist vermerkt. Der Zorn ist groß! – Nach jahrelangen Protesten sprach ein Gericht der Betreibergesellschaft die Verantwortung für das Unglück zu. Soweit die reale Geschichte zum Grubenunglück in Saint-Amé in Liévin in Schacht 3B.

Eine Welt bricht zusammen

Ein Trauma erfasst die Stadt. Auch Joseph ist tot. Michel ist verzweifelt – und ein Jahr später nimmt sich der Vater das Leben. Michel flüchtet nach Abschluss seiner Automechanikerausbildung nach Paris und wird Lkw-Fahrer, heiratet. Die Worte seines Vaters wird er nie vergessen:

Du musst uns rächen! 

40 Jahre ein Sinnen nach Rache

Der Roman beginnt 40 Jahre nach dem Unglück. Michel hat nun auch seine Frau zu Grabe getragen. Das Grubenunglück und der Tod seines Bruders haben ihn nie losgelassen. Wie versessen sammelt er alle Informationen dazu, sperrt sich in einer Garage ein, die er zu einem Tatortzimmer umfunktioniert hat. Akten, Beweise, Zeitungsausschnitte und Fotos an der Wand. Er studiert jedes Detail, schließt sich ein in seinen Kummer. Michel will Rache! Für ihn ist der damalige Steiger schuld, denn der war für seine Truppe verantwortlich, hatte alle Sicherheitsmaßnahmen in den Wind geschlagen, die Männer einfahren lassen. Aber der Steiger lebt! Er muss büßen!, so nimmt es sich Michel vor.

Die Kohle wird dir nur Kummer machen. Auch wenn du nicht dabei draufgehst. Auch wenn du das alles überlebst, den Staub, die unsicheren Ausbauten, die entgleisenden Hunte, das Wüten des Abbauhammers, die Eiseskälte bei der Ausfahrt. Auch wenn du auf beiden Beinen in Rente gehst, wirst du die Dreckskohle doch nie loswerden. Ein Teil von dir wird unten bleiben. Du wirst eine Staublunge kriegen, Joseph. Die kann man dann höchstens noch in den Ofen schmeißen, um Feuer zu machen. Du bist dann vergiftet. Halb taub und halb tot.

Eine Hommage auf die toten Kumpel von Liévin

Sorj Chalandon erinnert an ein fürchterliches Grubenunglück, der Roman ist eine Hommage an die Opfer (alle Namen werden am Ende des Buchs aufgeführt) und eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus – der Gewinnsucht. Menschenleben zählen nicht. Sehr eindrucksvoll beschreibt Chalandon, wie der Kohleabbau die Gesundheit der Kumpel im Lauf der Jahre zerstörte, aber auch wie eine ganze Stadt sich in schwarzen Staub verhüllt, Salat, den man dreimal waschen muss, bis das Wasser sich nicht mehr grau färbt. Die Gasexplosion in über 700 Metern Tiefe war die gewaltigste Bergwerkskatastrophe der französischen Nachkriegszeit. Gleichwohl das ist nur ein Teil der Geschichte. Michel, der Ich-Erzähler, berichtet uns seine Version. Einem Icherzähler darf man nie vertrauen … oder doch? 40 Jahre trägt er die Geschichte mit sich herum, kann nicht vergeben. Der Tag seiner Rache ist gekommen! Chalandon ist ein eindrucksvolles Psychogramm eines Menschen gelungen – das Ganze verwoben mit einem historischen Ereignis, eine Erinnerung, die über den Unglückstag hinausgeht. Die Erinnerung daran, wie viel Leid mit dem Bergbau verbunden ist. Ein Mann, der sein Leben lang von Schuld geplagt wird.

Manchmal muss man die Unvernunft bis zum Ende treiben, um sich der Vernunft zu stellen

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.


Sorj Chalandon
Am Tag davor
Originaltitel: Le Jour d’avant
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Roman
Hardcover, 320 Seiten
dtv Literatur, 2019

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Dieses Sachkinderbuch bietet viel Hintergrundwissen zur Mittelmeerregion. Das Buch entführt uns zu Zeugnissen großer Kulturen, Geografie, Geschichte, die Geschichte ihrer Besiedlung und lädt uns ein, ein die Tiefe der Unterwasserwelt zu tauchen. Die mediterrane Region ist aber nicht nur ein Urlaubsort: Schon seit über 42 000 Jahren leben Menschen am und vom Mittelmeer, mit einer 46.000 Kilometer langen Küstenlinie und 521 Millionen Menschen, die in den 24 angrenzenden Staaten leben. Eine runde Information, grafisch hervorragend begleitet, ein Kinderbuch ab 9 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder