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1793 von Niklas Natt och Dag - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




1793 

von Niklas Natt och Dag

Sprecher: Philipp Schepmann, Simon RodenHörbuch, Spieldauer: 14 Std. und 35 Min.


Die wenigsten Fälle, in denen du für mich ermittelt hast, waren deiner Aufmerksamkeit wert! Falschmünzer, die nicht buchstabieren konnten. Ehemänner, die ihre Frauen erschlagen und nicht einmal das Blut vom Hammer gewischt hatten. Gewalttäter und andere Delinquenten, die der Branntwein und der anschließende Kater zur Raserei getrieben hatten. Aber das hier, das ist etwas anderes, das hat keiner von uns beiden je zuvor erlebt.

Ein historischer Krimi aus Schweden, aber was für einer! Ein Roman, der unter die Haut geht, nichts für schwache Nerven. 18. Jahrhundert, die Zeit direkt nach dem Russlandkrieg. In Stockholm herrschen die Feudalherren, rücksichtslos nehmen sie sich, was sie wollen, feiern rauschende Feste, geben sich den Vergnügungen hin, allen Lastern, die man sich denken kann, wer bezahlt kann auch die letzte Perversion kaufen. In der städtischen Kloake Stockholm wird eine Leiche angeschwemmt: Die Zunge ist herausgeschnitten, die Augen sind ausgestochen, Beine und Arme fachgerecht amputiert. Der Häscher Michael Cardell findet die Leiche, er ist ein gehbehinderter vom Krieg traumatisierter Kriegsveteran. Und er will den Fall aufklären, wie auch Cecil Winge, ein Jurist, der von seiner Tuberkulose stark beeinträchtigt ist, der für »besondere Verbrechen« zuständig ist. Er engagiert Cardell. Winge weiß, er hat nicht mehr lange zu leben, und darum muss der Fall schnell abgeschlossen werden.  Sie sind ein ungleiches Paar, aber in der respektvollen Teamarbeit ergänzen sie sich.

Niklas Natt och Dag (er heißt wirklich so, ein schwedischer Adelstitel) zeichnet ein Sittenbild Schwedens im 18. Jahrhundert, das uns heute anwidert. In einem Nebenstrang erzählt er die Geschichte von dem jungen Mann Kristofer Blix, der sein Glück in Stockholm sucht und unter die Räder gerät, der alle seine Qualen in Briefen festhält, die nie abgeschickt werden. Und da ist Anna Stina, eine junge Frau, die plötzlich ganz allein in der Welt steht., ein weiterer Strang. Sie verdient sich ihr mageres Geld mit Obstverkauf und wird falscherweise der Hurerei bezichtigt, landet zur Strafe in dem berüchtigten Spinnhaus der Stadt, verdammt zu jahrelanger Zwangsarbeit.

Durch die Straßen von Paris strömt inzwischen Blut, und die Klinge der Guillotine muss mehrmals täglich geschliffen werden, um ihrer Aufgabe nachzukommen. Ich will, dass hier in Stockholm das Gleiche passiert. Die Gosse soll rot überflutet werden. Je weniger von uns überleben, umso besser. Die Stadt zwischen den Brücken soll von Leichen verstopft sein, die Friedhöfe sollen überquellen. Nur die Raben sollen überleben.

Korruption steht an der Tagesordung, ob Polizei, Häscher (Stadtknechte), Beamte, so ziemlich jeder ist bestechlich. Frauen, Jugendliche und Kinder sind Freiwild, insbesondere dann, wenn sie niemanden haben, der sie beschützt und nicht von Stand sind. Der Autor schafft es, dass ich mir dieses Stadtbild vorstellen kann, ich wate mit ihm durch Dreck und Schlamm, mich jucken die Läuse. Tuberkulose liegt über den Armenvierteln und wer kein Geld hat, stirbt schnell daran. Kriegsversehrte Männer versuchen irgendwo ein Job zu ergattern, Bettler an jeder Straßenecke. Niklas Natt och Dag zeichnet beinhart ein grausames Bild dieser Zeit, die von Gewalt geprägt ist, was von ihm aber nicht überzeichnet wird. 1793 ist aber auch das Jahr, in dem das französische Königspaar per Guillotine abgesetzt wurde. Die schwedische Obrigkeit hat Angst davor, dass das schwedische Volk auch auf die Barrikaden geht, für Gleichheit und Brüderlichkeit einsteht. Und andere Kräfte hätten gern gleiche politische Verhältnisse im Land.

Die Charaktere sind fein gezeichnet und gehen dem Leser ins Herz, man leidet mit allen Hauptpersonen. Durch den Perspektivwechsel kann man aufatmen, nebenbei wird die Spannung gesteigert und natürlich finden am Ende alle Stränge zusammen. Was will man mehr? Gute historische Recherche, Protagonisten, die glaubhaft sind, lebendig, ein Krimi und Bilder, die alle Sinne ansprechen, lange nachwirken. Der Autor hat eine eigene Stilistik, in die man zwar hineinkommen muss, was bei mir aber nicht lange gedauert hat.


Niklas Natt och Dag, arbeitet als freier Journalist in Stockholm. Er entstammt der ältesten Adelsfamilie Schwedens. Nicht zuletzt deshalb hat er eine besondere Verbindung zur schwedischen Geschichte. Sein historischer Kriminalroman ›1793‹ wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Schwedischen Krimipreis für das beste Spannungsdebüt. Wenn er nicht schreibt oder liest, spielt er Gitarre, Mandoline, Geige oder die japanische Bambuslängsflöte Shakuhachi.



Wer sich für diese Zeit interessiert, hier ein ähnliches Beispiel aus Dänemark:

Ewigkeitsfjord von Kim Leine

Die Kolonie Grönland - ein schwarzer Fleck in der Geschichte Dänemarks

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