Direkt zum Hauptbereich

Lincoln im Bardo von George Saunders - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Lincoln im Bardo 

von George Saunders


Der Anfang: Als wir heirateten war ich sechsundvierzig und sie achtzehn. Ich weiß natürlich, was ihr jetzt denkt: älterer Mann (nicht dünn, praktisch kahl, ein steifes Bein, Holzzähne) übt sein eheliches Recht aus und erniedrigt solcherart die arme junge – Aber das stimmt nicht. (hans vollmann)

Was habe ich erwartet? Einen historischen Roman. Erstes Blättern – was bitte ist das? Ich habe das Buch fälschlicherweise zunächst weggelegt. Man darf sich vom ersten Eindruck nicht abschrecken lassen, sondern man muss loslegen, lesen. Mich jedenfalls hat Saunders schnell gefesselt. Vorweg etwas zu Saunders, der eigentlich ein Meister der Kurzgeschichten ist. Zehn Jahre sei er mit der Idee zu dieser Lektüre umhergewandert, um eine Form zu finden, Lincoln am Grab seines Sohnes. Ein Theaterstück war der erste Impuls das Thema zu fassen und herausgekommen ist ein Zwischending zwischen Bühnendichtung und Roman. Oder besser gesagt, eine Form, die es bisher noch niemals gab, etwas völlig Neues.

Will war das Abbild Mr. Lincolns, in jeder Weise, bis dahin. Dass auch er seinen Kopf leicht schräg hielt, zur linken Schulter neigte. (Burlingame, ebda, Bericht eines Nachbarn aus Springfield)

Zwiegespräche zwischen Vater und Sohn, ganz ohne Kitsch

Vorgeschichte: Ein Freund Saunders erzählte ihm in Washington, D. C., auf dem Friedhof von Oak Hill würde Lincolns jüngster Sohn begraben sein. Er starb mit elf Jahren an Typhus. In dieser Nacht fielen viele Soldaten auf dem Schlachtfeld, Lincoln feierte währenddessen mit seiner Frau ein rauschendes Fest in Washington, den todkranken Sohn im Bett, Soldaten auf dem Feld. – der Kern dieses Romans –  »Lincoln sei mehrfach zur Gruft zurückgekehrt, um die Leiche seines Sohnes in den Armen zu halten«, das mitten im Bürgerkrieg. Saunders sagte, in seiner Vorstellung habe er die Lincoln-Figur aus dem Memorial mit Michelangelos Pietà kombiniert, aus der Maria mit ihrem toten, Sohn auf dem Schoß wurde Lincoln. Als Bardo bezeichnet man im Tibetischen Buddhismus Bewusstseinszustände im Diesseits wie im Jenseits, den Übergang der Seele vom Diesseits ins Totenreich. Hier hausen die Seelen, die noch nicht bereit sind mit der vergänglichen Welt abzuschließen. Zwiegespräche zwischen Vater und Sohn, ganz ohne Kitsch, empathisch, voller Liebe. Sauders um dies Szenarium viele Seelen sprechen lassen. Sie fühlen sich nicht verstorben, würden gern in ihren Körpern zurückkehren, die in den »Kranken-Kisten« (Särgen) liegen. Genau dieser wilde Haufen macht den Roman amüsant, teils tiefschwarzer Humor nimmt den Leser mit Leichtigkeit an die Hand, das Taschentuch kann getrost auf dem Tisch liegenbleiben. Gleichzeitig reist Saunders mit uns ins Jahr 1862, in die Denkweise der Gesellschaft. Hier kommen Männer wie Frauen zu Wort, Sklaven, Witwen, Huren, Soldaten, ehrenwerte Bürger, und einige echte historische Auszüge sind eingewebt. Die fiktiven Protagonisten stellen manchmal das in Frage, was historische Personen hier behaupten, die ja nicht immer einer Meinung sind. Um die 150 Seelen kommen zu Wort. Es wird nie langweilig, nie überladen.

… wurde mir klar, wie unsagbar schön alles war, wie akkurat zu unserem Vergnügen eingerichtet, ich begriff, dass ich kurz davorstand, ein wundersames Geschenk zu verschleudern, das Geschenk, jeden Tag von neuem durch dieses riesige, sinnfrohe Paradies zu schlendern, über diesen großen Marktplatz, der liebevoll jegliche Köstlichkeit darbot …


Verstorbene im Gespräch

Saunders hat etwas Neues geschaffen. Wie könnte man diesen Text bezeichnen? Text-Collage? Keine Angst, es liest sich fantastisch. Jede Hauptfigur wird kurz eingeführt, erzählt ihre Geschichte. Gleich am Anfang lernen wir den armen Hans Vollmann kennen, der in der Hochzeitsnacht aus Rücksicht seiner jungen Frau gegenüber (Zitat siehe oben) die Ehe nicht körperlich vollzieht. Am nächsten Morgen löst sich ein Balken von der Decke, er darunter am Schreibtisch sitzend, just, als er an sie denkt und er landet in einer »Kranken-Kiste«, selbstverständlich auf Rat des Arztes, den Plan des Ehevollzugs selbstverständlich nur verschoben. Nun rennt er mit einem Dauersteifen herum, kann diese Welt nicht loslassen. Ebenso herrlich die Szene, in der sich die Seelen über den Umgang mit Toten unterhalten: Scherzkekse, die, wenn sie die Körper in die »Kranken-Kiste« werfen, nachfragen, ob weh getan hätte – aber auch liebevolle Griffe und Worte, als wären sie noch am Leben.

Vielleicht waren wir doch liebenswerter, als wir mittlerweile glaubten.

Eine Nacht auf einem Friedhof

Und immer wieder geht es über den Sinn des Lebens, warum das alles, wenn wir sowieso einmal verschwinden. Sollten wir uns nicht lieben, uns am Schönen auf der Welt erfreuen, wenn die Zeit so kurz ist? Mr. Collier, »persival ›flott‹ collier«, macht sich Gedanken über sein Reich: Vier Häuser, 15 Gärtner, Kutschen und Möbel und die Zeit, die man damit verbringt, von einem Haus zum anderen zu reisen – er kann nicht loslassen all den Prunk, den er sich geschaffen hat. Später gesellen sich die Seelen der schwarzen Sklaven dazu, die man vor der Friedhofsmauer begraben hat. Wie sie hier durcheinanderquasseln und mittendrin der Vater und sein Sohn, die nicht loslassen können. Und dann riecht Willi nach wilden Zwiebeln, immer stärker. Das ist das Zeichen, bereit zu sein, zu gehen. Wer hier einen Roman erwartet, liegt falsch – nein, richtig. Ein Gespräch von vielen, mit eingeschobenen Kurzgeschichten, eine Nacht auf einem Friedhof. Letztendlich zählt nur die Liebe zueinander.

Der amerikanische Autor George Saunders, gelernter Geophysiker, unterrichtet an der Syracuse
University NY Kreatives Schreiben. Seine Shortstory-Sammlungen haben Kult-Status. In Amerika bezeichnet man ihn als den Meister der zeitgemäßen Kurzgeschichte. Sozialkritisch, dystopisch, satirisch, Saunders hat immer etwas zu sagen, wurde für die Kurzgeschichten mit dem PEN/Malamud Award und dem Folio Preis ausgezeichnet.  Mit diesem ersten Roman »Lincoln in the Bardo« erhielt Saunders den britischen Man Booker-Preis, von meiner Seite aus zurecht.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Meine geniale Freundin von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante

Die Neapolitanische Saga Band 1 Ein moderner Klassiker als Graphic Novel umgesetzt – ich war gespannt, da Elena Ferrante sehr ausführlich in ihrer Tetralogie nicht nur die Freundschaft zwischen Elena und Lila beschreibt, sondern gleichzeitig ein Sittengemälde der Zeit wiedergibt, soziale und politische Strukturen aufnimmt, die Übernahme der Camorra in Neapel beschreibt. Wenn ich das zusammenziehe, ist der Comic missglückt. Denn der bezieht sich wirklich nur auf einen wesentlichen Kern: auf die Beziehung zwischen Elena und Lila, zwei Lebensläufe, die gemeinsam beginnen, aber auseinanderdriften. Zeichnerisch ist das Buch sehr gelungen.  Weiter zur Rezension:    Meine geniale Freundin von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante